W. V. Neubeck: Hymnus an Nemesis

Hymnus an Nemesis

In: Wilhelm Valerius Neubeck, Die Gesundbrunnen, 2. Auflage, Göschen, Leipzig 1809, S. 121-124.

Nemesis, älteste Göttin, der welterhaltenden Ordnung
Mutter, dem Übeltäter unsühnbar, aber dem Guten
Gnädig und hold, dich preist mein Lied. Wo find‘ ich den Tempel,
Wo den erhabnen Altar, der dir, o Hehre, geweiht ist?
5 Ist das Weltall selber vielleicht dein ewiger Tempel?
Und verkündigen dort die leuchtenden Sonnenheere
Deine Gesetze? Verehren die Geister dich über den Sternen,
Wo du geheimnisvoll auch über die Uranionen
Waltest? – Dich anzubeten, mit reinem Herzen, vergönne,
10 Erfurchtwürdige Göttin, dem Sterblichen. Hier in mir selber,
Hier in des Geistes Tiefen vernehm‘ ich, heilige Macht, dich.
Ja, du bist es, ich ahne die furchtbare Nähe der Gottheit.
Siehe, die ernste gerecht abwägende Nemesis fühl‘ ich
Hier in der eigenen Brust. Du bist es, welche dem Menschen
15 Zuruft: „Lerne, gewarnt, recht tun, und verachte den Gott nicht,
Der in dem Herzen dir wohnt.“ Mutwillig Frevelnde stürzet
Deine Gewalt in den Staub. Graunvoll, wie am heiteren Himmel
Plötzlich ein Wetter sich wölkt, umfängt den sichern Verbrecher
Schnelles geflügeltes Weh. Doch schuldlos leidende Tugend
20 Reinigest du vor dem Volk, und im Glanz unlauterer Schöne
Lebt sie, den Himmlischen ähnlich, ihr seliges Leben auf Erden.
Wer, unschuldig zum Tode verurteilt, rein von der Sünde,
Starb, und sterbend vergab den Richtenden, volle Vergeltung
Harret sein über den Urnen in friedsamen Hainen der Wonne;
25 Denn du führest ihn selbst in Elysium unter dem Päan
Hochfrohlockender Chör‘ im Triumph ein. Nemesis richtet
Über die Toten und über die Lebenden. Keiner entrinnet
Ihren verhängnisvollen Entscheidungen. Ernste Vergeltung
Übt sie geheim, und wacht im Verborgenen lohnend und strafend.
30 Schwer büsst jede vermessne Begier dem strengsten Gewissen.
Was sie zu sündigen wagt. Zu täuschen vermag ihr den Blick nicht
Schnöder Verheimlichung Hülle. Die leiseste Spur der Gedanken
Auszukunden, erforscht sie das Innerste alles Erschaffnen.

Welch ein Opfergeschenk, Untrügliche, ehret dich würdig?
35 Mehr denn Festhekatomben gefällt demütige Sitte,
Mehr die stille bescheidene Tat der Vergelterin Auge.
Wer mit kindlichem Sinn und geräuschlos wirket das Gute,
Legt auf Nemesis reinen Altar den erlesensten Weihrauch.

Dir, ratgebende Göttin, gerad urteilende, huldigt
40 Jede das Leben verschönende Kunst. Dem Geweihten vernehmbar
Waltest du ob dem Gesange der heiligen Musen, bestimmest
Maß und Verhalt den Tönen der goldenen Leier, und ordnest
Zum anmutigen Reigen den Tanz der Chariten. Deinem
Winke gehorchend, erwirbt der Vollendung Palme der Künste
45 Herrlicher Chor, und ewiger Ruhm krönt ihre Gebilde.

Selig die Könige, welche die heilige Regel der Mitte
Nicht missachten, dir selbst an Gerechtigkeit ähnlich und Milde.
Weithin sehn sie die Städte von ordnungsliebenden Bürgern
Voll aufblühn, und nimmer empört Unfriede die Völker.
50 Glücklich preis‘ ich vor allem den Mann, der, fromm dich verehrend,
Unter sein Dach dich ruft, und im Heiligtum seiner Penaten
Dich um Heil und Frieden und reine Gesinnungen anfleht.
Was er wirket, gelingt, und was er pflanzet, erfreuest
Du mit Gedeihn, und es blühet in Segensfülle das Haus ihm.

55 Deinem Gericht, o du, der Unscham Hasserin, werden
Alle dereinst heimfallen, die kühnen Entheiliger deiner
Gottheit, alle Tyrannen und Unterjocher der Menschheit.
Toren, vom Glücke berauscht! Auf schwindelnder Höhe verdunkelt
Nemesis ihnen den Blick, und, gleich Nachtwandlern, zum Abgrund
60 Taumeln sie. Ob den Nacken der Übermütigen schreitet
Sie zum Verderben daher. Den Fluch der Entscheiderin: spurlos
Unterzugehn, ihn zu wenden vermag kein Gott von den stolzen
Werken der Sterblichen, denen die Allgewaltige zürnet.

Dein ist, Hohe, die Macht, zu ebenen alles, und jeden
65 Missklang aufzulösen in Wohlklang. Heiliger Ordnung
Zügel in sicherer Hand, lenkst du feindselige Kräfte
Zum endgültigen Ziele. Den Aufruhr wilder Begierden
Sänftigest du, und mit dem siegenden Reiz entsteigt den gestaltlos
Wogenden Schaum an das heilige Licht die himmlische Liebe.

70 Schaffe mir lauteren Sinn, allwaltende furchtbare Göttin!
Lauteren Sinn, und ein Herz, das rein von der Schuld sich bewahre!