Ohne Titel

Als Dr. Sotz den Park betritt,
Verlangsamt er und hält den Schritt,
Und steht – er spürt ein Wollen

In Weg und Bank, in Wind und Licht,
In Sein und Zeit, aus Allem spricht
Der Wunsch: die Dinge sollen

Sich ändern! Komm, Veränderung!
Sotz nickt vergnügt und schlendert
Den Weg hinab, und Alles
Verändert sich: Die Welt ist jung.

Erzählverse: Der Hexameter (94)

Vielleicht ist es sinnvoll und lohnend, den Voß-Versen aus (93) einige Verse von Goethe gegenüberzustellen? Gleich am Anfang von „Hermann und Dorothea“, als die Wirtsfrau ihrem Mann von ihrer Kleiderspende für die Flüchtlinge erzählt:

 

„Denn ich hörte von Kindern und Alten, die nackend dahergehn.
Wirst du mir aber verzeihn? denn auch dein Schrank ist geplündert.
Und besonders den Schlafrock mit indianischen Blumen,
Von dem feinsten Kattun, mit feinem Flanelle gefüttert,
Gab ich hin; er ist dünn und alt und ganz aus der Mode.“

 

Wer mag, kann sich ja für die inneren drei Verse die Sinneinheiten selbst überlegen; ich denke, er wird finden, sie sind deutlich weniger klar ausgeprägt als bei Voß. Spannend finde ich aber vor allem den Blick auf den ersten und auf den fünften Vers!

Denn / ich hörte / von Kindern / und Alten, / die nackend / dahergehn.
— / v — v / v — v / v — v / v — v / v — —

– So ein Vers wäre Voß nie in den Sinn gekommen: Viermal dieselbe Sinn- und Bewegungseinheit hintereinander weg (fünfmal sogar, wenn man den Schluss unachtsam spricht!), und dann auch noch die „leidigen Amphybrachen“, deren „v — v“ Voß ohnehin nicht mochte, weil es die Verse weich und ungestalt macht!

Den letzten Vers Goethes kann man gut dem letzten Vers Voß‘ gegenüberstellen:

“Lieber Gott, / wie es stürmt, / und Schnee / in den Gründen / sich anhäuft!”
— v — / v v — / v — / v v — v / v — —

„Gab ich hin; / er ist dünn / und alt / und ganz / aus der Mode.“
— v — / v v — / v — / v — / v v — v

Der Anfang ist bei beiden Versen genau gleich gebaut! Danach aber hat Voß mehr „Zug“ drin, der Versschluss ist kräftiger in seinem nochmaligen Beschleunigen und Abbremsen; Goethes Vers schließt entspannter, ausgewogener. Da kann man nicht sagen, der eine sei besser als der andere; beide sind gute Verse, aber vielleicht eben auch ein gutes Beispiel dafür, wie sich das Versverständnis dieser beiden Verfasser unterschied.

Erzählverse: Der Hexameter (93)

Hört man zum ersten Mal von Regeln wie der in (92) beschriebenen, scheinen sie herzlich überflüssig zu sein: Welche Bedeutung kann es für einen Vers haben, ob und wie oft nacheinander ein bestimmter „Wortfuß“ in ihm vorkommt?!

Hört man aber genauer hin, wird klar, die Bedeutung ist gewaltig; denn die „Wortfüße“, was ja die Sinneinheiten meint, sind, was das Ohr schlussendlich wahrnimmt an Bewegung und rhythmischer Gestaltung!

Die folgenden Hexameter stammen aus Johann Heinrich Voß‘ „Der siebzigste Geburtstag“. Wer mag, kann ja einmal versuchen, in ihnen die Sinneinheiten aufzuspüren!

 

Jetzo sah sie hinaus, wie die stöbernden Flocken am Fenster
Rieselten und wie der Ost dort wirbelte, dort in den Eschen
Rauscht‘ und der hüpfenden Kräh’n Fußtritte verweht‘ an der Scheuer.
Lange mit ernstem Gesicht, ihr Haupt und die Hände bewegend,
Stand sie vertieft in Gedanken und flisterte halb, was sie dachte:
„Lieber Gott, wie es stürmt, und Schnee in den Gründen sich anhäuft!“

 

Welche Sinneinheiten man wahrnimmt, hängt auch immer von der Sprechgeschwindigkeit ab, es gibt also manchmal mehr als eine Möglichkeit; ich für mich würde die Verse so abteilen:

Jetzo / sah sie hinaus, / wie die stöbernden / Flocken / am Fenster
— v / — v v — / v v — v v / — v / v — v

Rieselten / und wie der Ost / dort wirbelte, / dort in den Eschen
— v v / — v v — / — — v v / — v v — v

Rauscht‘ / und der hüpfenden Kräh’n / Fußtritte / verweht‘ / an der Scheuer.
— / v v — v v — / — — v / v — / v v — v

Lange / mit ernstem Gesicht, / ihr Haupt / und die Hände / bewegend,
— v / v — v v — / v — / v v — v / v — v

Stand sie / vertieft / in Gedanken / und flisterte halb, / was sie dachte:
— v / v — / v v — v / v — v v — / v v — v

„Lieber Gott, / wie es stürmt, / und Schnee / in den Gründen / sich anhäuft!“
— v — / v v — / v — / v v — v / v — —

– Nun war Voß jemand, der auf die rhythmische Gestaltung seiner Verse sehr geachtet hat; das bemerkt man hier! Nicht nur, dass dieselbe Sinn- und damit Bewegungseinheit kein einziges Mal zwei- oder gar dreimal aufeinanderfolgt; es ist sogar die Ausnahme, dass überhaupt zwei gleiche Einheiten im selben Vers auftauchen!

Bemerkenswert auch, wie stark sich jeder Vers in der Bewegung vom vorigen und vom folgenden unterscheidet.

Die „Amphybrachen“, also Wortfüße der Form „v — v“, die sich im Deutschen sehr leicht einstellen, aber den Vers matt machen, sind fast gar nicht vertreten!

Eine eigene Anmerkung wert ist sicher auch der letzte Vers, in dem der ja eigentlich daktylisch-fallende Hexameter nach einem „Umschalter“ (hier das „— v —“) nur noch steigende Wortfüße aufweist, vier an der Zahl, allesamt unterschiedlich; und dadurch schnell und fortreißend wird!

Und es ließe sich noch manches mehr finden. Nun muss man Hexameter nicht mit einem derartigen rhythmischen Aufwand schreiben, Goethe hat das auch nicht gemacht und trotzdem wunderbare Hexameter geschaffen; aber hineinschauen in die Maschinenräume solche Verse, und zu verstehen versuchen, woher die Bewegung stammt und warum sie welche Wirkung hat: das ist für das eigene Schreiben unendlich wertvoll.

Erzählverse: Der Hexameter (92)

Kein Vers ist von den Metrikern, vor allem denen des 19. Jahrhunderts, so mit Regeln überzogen und so durch Regeln gelähmt worden wie der Hexameter; was um so schlimmer ist, als es noch nicht einmal die gleichen Regeln sind bei den verschiedenen Theoretikern, sondern oft genug der eine „Hü!“ ruft, wo der andere „Hott!“ schreit. Trotzdem lohnt sich der Blick in die entsprechenden Texte!

Man darf nur nicht für unumstößlich nehmen, was da alles geschrieben steht, sondern sollte es für sich bedenken und dann nach der Brauchbarkeit für den eigenen Vers einschätzen und beurteilen.

Ich nehme ein Beispiel aus der „Kurzgefaßte Verslehre der deutschen Sprache: zum Schul- und Haus-Gebrauch“ (was ein Titel) von Karl Wilhelm Ludwig Heyse (1825). Heyse merkt an, dass im Hexameter gleiche „Wortfüße“ (in etwa: Sinneinheiten) nicht häufiger als zwei Mal hintereinander stehen dürfen, da sonst die rhtyhmische Vielfalt, auf die der Hexameter ja angewiesen ist, verloren geht. Das ist soweit und als Daumenregel ein guter Hinweis, denke ich!

Dann aber: „Nur der Anapäst darf als Wortfuß dreimal wiederkehren“. Aha?! Als Beispiel dient ein Vers aus Klopstocks „Messias“,

Eile dahin, / wo der Tod, / und die Nacht, / und das Grab / dich erwarten!

Ohne Zweifel ein wirkmächtiger Vers, gerade wegen der drei „anapästischen Wortfüße“ in der Versmitte („wo der Tod“, „und die Nacht“, „und das Grab“); ist er aber auch eine Begründung für diese Ausnahme von der gerade erst aufgestellten Regel?! Es muss so sein, denn eine andere Begründung findet sich nicht.

Da hilft dann, wie immer: selber denken. Einfach Hexameter bauen, in denen die unterschiedlichen „Wortfüße“ zwei-, drei-, vier-, fünfmal aufeinander folgen; und dann laut sprechen und das eigene Ohr entscheiden lassen, was noch abwechslungsreich klingt – und was schon langweilig!

Schafft! / Und belauscht, / wie der  Vers / sich bewegt, / den ihr schuft: / dann entscheidet.

– Ein Hexameter mit vier anapästischen Wortfüßen. Wirklich nicht möglich? Oder doch?! Die Regel gibt den Anstoß zur Überprüfung;  das eigene Ohr fällt das Urteil.

Gespräch unter Freunden

Schreibst du Verse, mein Freund?
Ich schreibe Verse; und reichlich.
Gute Verse, mein Freund?
Ich weiß nicht; ich muss es nicht wissen.
Verse schreibst du, mein Freund.
Ich schreibe Verse; und reichlich.

Erzählformen: Das Madrigal (16)

„Der Hirsch, der Hase und der Esel“ von Ludwig Gleim klingt schon in der Überschrift wie eine Fabel und liest sich wenig anders:

 

Ein Hirsch mit prächtigem Geweih
Von achtzehn Enden ging spazieren.
Ein Hase lief vorbei,
Sah ihn und stutzte. Starr auf allen Vieren
Steht er und gafft ihn an.
Macht Männchen, geht heran,
Sagt: Lieber, sieh mich an!
Ich bin ein kleiner Hirsch;
Denn, spitz ich meine Ohren,
So hab‘ ich solch Geweih wie du!

Ein Esel hörte zu,
Sprach: Häschen, du hast Recht,
Wir sind von einerlei Geschlecht,
Der Hirsch, und ich, und du!

Der Hirsch tat einen Seitenblick
Und ging in seinen Wald zurück!

 

Was ein Madrigal kennzeichnet, ist da: unterschiedlich lange, hier iambische Verse; überschaubare Länge; und eine freie Reimstellung, wobei hier insofern eine Besonderheit enthalten ist, als dass auf den dreifachen Gleichklang „an – dran – an“ plötzlich zwei Waisen – „Hirsch“, „Ohren“ – unmittelbar aufeinander folgen! Das ist ein ziemlich harter Wechsel, aber auch die kennt das Madrigal; und eigentlich wird hier der Fluss des Textes dadurch nicht gestört!?

Erzählverse: Der iambische Trimeter (17)

Wieder, wie in (15),  Christian Morgenstern, wieder mit einem kurzen Text: „Einer Schottin“.

 

Nie hörte ich mit solchem Liebreiz je ein Weib
antworten, mit solch hingegebenster Weiblichkeit,
als dich dein ‚yes‘, dein ‚yes‘ auf deiner Nachbarn Wort.
Der sanften braunen Augen einer jungen Kuh
erinnert mich dies so von aller Feindlichkeit,
von aller Selbstigkeit entblößte, weiche ‚yes‘.
Und schottische Mondscheinnächte, wie ich manchmal sie
gemalt sah, steigen herzelösend vor mir auf
und zeigen mir die Heimat, deren Kind du bist.

 

„Die sanften braunen Augen einer jungen Kuh“?! Hm. Da fragt man sich, ob Morgenstern den Text besagter Schottin gezeigt hat …

Rein vom Vers her, jedenfalls: fällt die besonnene Art auf, mit der Morgenstern von den Möglichkeiten Gebrauch macht, die der Trimeter hat zur Auflockerung: das „antworten“ am Versanfang, die beiden mit zwei unbetonten Silben besetzten Senkungen im Versinneren, die zwei recht harten Zeilensprünge am Versende. Das ist nicht viel, und doch reicht es, dem Text seine Eintönigkeit und Schwere zu nehmen?!