Vielleicht ist es sinnvoll und lohnend, den Voß-Versen aus (93) einige Verse von Goethe gegenüberzustellen? Gleich am Anfang von „Hermann und Dorothea“, als die Wirtsfrau ihrem Mann von ihrer Kleiderspende für die Flüchtlinge erzählt:
„Denn ich hörte von Kindern und Alten, die nackend dahergehn.
Wirst du mir aber verzeihn? denn auch dein Schrank ist geplündert.
Und besonders den Schlafrock mit indianischen Blumen,
Von dem feinsten Kattun, mit feinem Flanelle gefüttert,
Gab ich hin; er ist dünn und alt und ganz aus der Mode.“
Wer mag, kann sich ja für die inneren drei Verse die Sinneinheiten selbst überlegen; ich denke, er wird finden, sie sind deutlich weniger klar ausgeprägt als bei Voß. Spannend finde ich aber vor allem den Blick auf den ersten und auf den fünften Vers!
Denn / ich hörte / von Kindern / und Alten, / die nackend / dahergehn.
— / v — v / v — v / v — v / v — v / v — —
– So ein Vers wäre Voß nie in den Sinn gekommen: Viermal dieselbe Sinn- und Bewegungseinheit hintereinander weg (fünfmal sogar, wenn man den Schluss unachtsam spricht!), und dann auch noch die „leidigen Amphybrachen“, deren „v — v“ Voß ohnehin nicht mochte, weil es die Verse weich und ungestalt macht!
Den letzten Vers Goethes kann man gut dem letzten Vers Voß‘ gegenüberstellen:
“Lieber Gott, / wie es stürmt, / und Schnee / in den Gründen / sich anhäuft!”
— v — / v v — / v — / v v — v / v — —
„Gab ich hin; / er ist dünn / und alt / und ganz / aus der Mode.“
— v — / v v — / v — / v — / v v — v
Der Anfang ist bei beiden Versen genau gleich gebaut! Danach aber hat Voß mehr „Zug“ drin, der Versschluss ist kräftiger in seinem nochmaligen Beschleunigen und Abbremsen; Goethes Vers schließt entspannter, ausgewogener. Da kann man nicht sagen, der eine sei besser als der andere; beide sind gute Verse, aber vielleicht eben auch ein gutes Beispiel dafür, wie sich das Versverständnis dieser beiden Verfasser unterschied.