Was erscheint, verschwindet wieder

Schüchtern legt das erste Licht sich
Auf die Kronen der Platanen,
Läuft zusammen, tropft herunter
Auf die breiten Rosenbüsche,
Auf die Tulpen, heller wird es,
Morgen wird es in den Beeten,
An den Wegen, auf der Parkbank,
Die seit Stunden schon belegt ist:
Doktor Sotz sitzt unbeweglich
Auf ihr, dem noch Unbekannten
Still im Geiste nachzuspüren,
Leeren Blickes tut er’s, achtlos:
Merkt nicht, dass im Beete vor ihm
Erde sich bewegt, sich aufwölbt
Wie ein Maulwurfshügel, aber
Größer längst, ein Berg im Beete;
Ruhig kurz, bis aus der Spitze
Eine Hand zum Licht sich ausstreckt –
Fest, gedrungen (schwarze Ränder
Unter allen Fingernägeln)
Hebt die Hand sich aus dem Hügel
Und ein Rot, die Morgensonne
Ist es nicht, ist eine Zipfel-
Mütze, wie sie Zwerge tragen,
Und ein Bart folgt, und ein Wams folgt,
Gürtel, Hose, Stiefel, alles,
Was zu einem Zwerg gehört, folgt,
Bis – ein Zwerg vor Sotzens Parkbank
Steht, der wischt sich feuchte Erde
Aus dem Bart und von den Ärmeln,
Räuspert sich dann laut vernehmlich,
Dass der Doktor ihn bemerke …
Sotz bemerkt ihn, und von Neuem
Räuspert sich der Zwerg, die Kehle
Freizumachen, stellt sich aufrecht,
Legt die Hände auf den Rücken
Und beginnt, mit tiefer Stimme
Ein gar seltsam Lied zu singen:

Tief in der Erde, den menschlichen Blicken verborgen,
Leidet der Zwerge Geschlecht an zwei zwergischen Sorgen.
Welche das sind,
Sagt dir ein eigenes Kind,
Sotz! noch am heutigen Morgen.

Also singt der Zwerg und endet
Den Gesang, verbeugt, nein beugt sich
Zu dem Loch, dem er entstiegen,
Nieder, greift hinein, entnimmt ihm
Einen Spaten, geht fünf Schritte
Von dem Loch fort, und nun gräbt er,
Flinken Schwungs den Spaten regend,
Unter sich ein – Loch und ist schon
Halb verschwunden, schon bewegt sich
Nichts mehr als ein wenig Erde,
Die ins Loch rutscht; und jetzt nichts mehr.
Doktor Sotz, der reglos dasitzt,
Immer noch, erstaunt dies alles,
Und dies alles zu durchdenken
Ist sein Plan, den er verschiebt, denn
Schritte hört er näherkommen,
Schnelle, schnell, und Selbstgespräche:
Liese auf dem Weg zur Schule,
Spät wie immer, und so kürzt sie
Durch den Park ab, durch des Morgens
Klares Licht; und immer fröhlich.

Erzählverse: Der trochäische Vierheber (54)

Gelegenheits- und Anlassgedichte haben ihren ganz eigenen Reiz. Christoph Martin Wieland schieb die folgenden Verse (in etwa die erste Hälfte des ganzen Textes) anlässlich der Geburt des Sohnes  von Prinzessin Caroline von Sachsen-Weimar, mit der er eng befreundet war:

 

In des Morgens stiller Frühe,
wenn, aus Äther leicht gebildet,
holde Träume uns umflattern,
sah ich einen schönen Engel
aus der Morgenröte langsam
sich zur Erde nieder senken,
ein Gewächs des Paradieses
in den Rosenarmen tragend,
um es in den Schoß der Erde
zu verpflanzen. Und der Engel,
auf das Kind des Paradieses
liebevolle Blicke heftend,
„Wachse“, sprach er, „holde Blume,
wachse, blühe und gedeihe
unverwelklich, und erfreue
alle Augen, alle Herzen!“

 

Das ist schwerlich große Dichtung; trotzdem sind es reizvolle Verse, auch, weil der unübertroffene Reimkünstler Wieland hier einmal auf den Reim verzichtet und den gereihten trochäischen Vierheber verwendet, der allerdings von Wielands unglaublich sicherem Gefühl für Wohlklang und Verhältnis nicht weniger stark gestaltet und geformt wird! Einfach sprechen, und zuhören: Dann wird das offenbar.

Ein Übersetzungsvergleich

Aristophanes‘ letzte Komödie war der 388 vor Christus aufgeführte „Plutos“, darin es um Besitz und Reichtum geht. Fünf „Aristophanische Verse“ dieses Stücks (also im wesentlichen weiblich schließende anapästische Siebenheber) lauten in der deutschen Übersetzung, die Emanuel Lindemann 1832 veröffentlicht hat, so:

 

Denn so wie jetzt beschaffen ist die Lebensweise der Menschen,
Wer sollte wohl nicht für Wahnsinn es halten, ja mehr noch als Unglück vom Dämon?
Denn viele Menschen, die böse sind, genießen dennoch die Schätze,
Die sie mit Unrecht zu sammengehäuft; dagegen der Rechtlichen viele
Sind unglücklich stets in Dürftigkeit, mit dir sind sie meistens zusammen.

 

– Das „dir“ des Schlussverses ist die leibhaftig anwesende Penia, die (griechische) Göttin der Armut. Wie aber klingen diese Verse? Nun: Lahm. Einmal, weil sie den schwungvoll-drängenden anapästischen Grundrhythmus vernachlässigen, dann aber auch aufgrund der vielen unsinnlichen Begriffe.

Dass es auch anders geht, zeigt die 15 Jahre jüngere Übersetzung von Ludwig Seeger:

 

Denn ein Leben wie das, das die Sterblichen jetzt, die Unglücklichen führen, – wir kennen’s! –
Wem kommt es nicht vor wie verkehrt und verdreht, ja wahrhaftig, die pure Verrücktheit?
Nichtswürdige Schurken, und ihrer sind viel, die besitzen die Fülle des Reichtums,
Unehrlicherweise zusammengescharrt! Doch viele der redlichsten Männer
Sind im Elend und nagen am Hungertuch und verkehren mit dir nur, o Armut!

 

Nun weiß ich nicht, was die beiden Ausschnitte in Hinblick auf die Genauigkeit der Übersetzung leisten; als deutsche Verse genommen sind Seegers „Aristophanische Verse“ aber um Welten besser! Schwungvoller, zum einen; und zum anderen sind die „nichtswürdigen Schurken“ unendlich viel farbiger und eindringlicher als die „Menschen, die böse sind“. Selbiges gilt für „am Hungertuch nagen“ im Vergleich zu „in Dürftigkeit sein“!

Um auch einen Vers in seinem metrischen Bau vorzuführen – hier der letzte:

Sind im E– / lend und na– / gen am Hun– / gertuch || und verkeh– / ren mit dir / nur, o Ar– / mut!

◡ ◡ — / ◡ ◡ — / ◡ ◡ — / ◡ — || ◡ ◡ — / ◡ ◡ — / ◡ ◡ — / —

(Inhaltlich zeigt sich einmal mehr, dass sich in den letzten 2500 Jahren nichts wesentliches geändert hat …)

Sommergewitter

Radelnd nähr‘ ich mich dem Ziele,
Seh‘ in seiner Richtung viele
Wolken vor der Sonnenscheibe,
Durch die Schwärze bricht noch Licht;
Möglich, dass ich trocken bleibe,
Möglich auch, ich bleib‘ es nicht …

Von der Nebenbetonung

Irgendetwas lässt sich immer mitnehmen und von überall; hier aus Paul Zaunerts 1911 in den „Beiträgen zur deutschen Literaturwissenschaft“ erschienenen Aufsatz „Bürgers Verskunst“ (gemeint ist dabei Gottfried August Bürger). Zaunert schreibt dort in Bezug auf die „nebentonigen Silben“:

„Sehr oft handelt es sich dabei um Wortkompositionen: Nachtmahl, Treuring, Wasserhund, und bei derartigen Kompositionen ist die Aussprache des zweiten Bestandteils, des Grundwortes, das den Nebenakzent hat, sehr verschieden. Ist uns die Komposition sehr geläufig und altbekannt, so können wir das Grundwort flüchtiger, schneller aussprechen, ist es aber eine ungewöhnliche oder ganz neue Wortverbindung (in der poetischen Sprache ist das ja nichts seltenes), so erfordert der zweite Bestandteil eine deutlichere Aussprache, er hat mehr Akzent. So sind zum Beispiel Kompositionen wie Nachtmahl, noch mehr Treuring, Wasserhund uns fremder als etwa Jungfrau, Schwarzbrot, Mitternacht; daher sind Verse wie Und als er still harrend am Liebesbaum saß oder Dass aus der Stirn ihr der Todestau drang schlechter als der Vers Umspannten den Schmerbauch ihm nicht.

Meint: Bei „Liebesbaum“ kann die nebentonige Silbe, das Grundwort „Baum“, schlechter als Bestandteil einer mit zwei Silben besetzten Senkung stehen als bei „Schmerbauch“ das Grundwort „Bauch“, weil die erste Zusammensetzung eine ungewohntere Bildung ist, die mehr Aufmerksamkeit erfordert und dadurch auch auf der Nebenbetonung stärker betont wird:

Und als / er still har– / rend am Lie-/ besbaum saß
x X / x x X / x x X / x x X

Umspann– / ten den Schmer– / bauch ihm nicht.
x X / x x X / x x X

Und wenn das auch nur einer der Gesichtspunkte ist, unter denen das Gewicht einer Nebenbetonung betrachtet werden kann: Ein bedenkenswerter ist es allemal! („Schmerbauch“ ist heutzutage, denke ich, allerdings etwas aus der Mode gekommen …)

Bücher zum Vers (90)

Dieter Burdorf: Poetik der Form

Dieter Burdorfs Habilitationsschrift, erschienen 2001 bei J.B. Metzler, versammelt auf über 500 Seiten ausgehend von der Frage „Was ist Form?“ die Antworten, die in der deutschen Literatur und Kultur von 1750 bis in die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts auf diese Frage gegeben worden sind. Das ist viel Wissen auf vergleichsweise begrenztem Raum, so dass manches etwas knapp abgehandelt wird; aber lesenswert ist es allemal, und zur Not verweist das sehr umfangreiche Literaturverzeichnis auf andere Quellen! Drei etwas ausführlichere „Fallstudien“ geben Auskunft über die Formvorstellungen von Arno Holz, Rudolf Borchardt und August von Platen, über dessen Hexameter-Idyllen man zum Beispiel erfährt, Heinrich Henel habe sie 1966 mit den Worten „Eigentlich ist das nicht viel mehr als versifizierter Baedeker“ als „ästhetisch unrettbar“ gekennzeichnet; was eine ziemliche Frechheit war … Solcher kleinen und großen Hinweise gibt es viele, und sie machen das Lesen in „Poetik der Form“ allemal zu einem lohnenden Unterfangen.

Das Königreich von Sede (95)

Schemel fürchtet all die Träume,
Die zu träumen ihm verwehrt bleibt,
Weil der Schlaf ihn flieht – sie suchen,
Ungeduldig sind die Träume!
Andre Wege in die Welt sich,
Andre Schläfer, die sie träumen,
Werden fremde Wirklichkeiten,
Unbehauste, die voll Furcht sind …

Erzählformen: Das Distichon (34)

Ein Distichon besteht aus einem Hexameter und einem Pentameter, mithin aus zwei Versen, die sich von der Versbewegung her bestimmen. Das heißt aber nicht, dass ihr Klang nicht zum Gesamteindruck beiträgt, und die Verfasser haben auf viele verschiedene Arten versucht, Klangwirkungen im Distichon zu verwirklichen. Nie über den Endreim, weil der dem eigentlichen Wesensmerkmal, der Versbewegung, in die Quere käme; aber zum Beispiel über Alliterationen, wie im folgenden Beispiel von Johann Wolfgang Goethe zu sehen – und vor allem zu hören ist!

 

Preise dem Kinde die Puppen, wofür es begierig die Groschen
Hinwirft; wahrlich! du wirst Krämern und Kindern ein Gott.

 

Da finden sich auf den Hebungsstellen der vier Halbverse immer zwei gleich anlautende Silben:

Preise dem Kinde die Puppen, || wofür es begierig die Groschen
Hinwirft; wahrlich! du wirst || Krämern und Kindern ein Gott.

Am Anfang des Pentameters verstärkt das „-wirft“ diese Wirkung noch; es steht zwar in der Senkung, habt aber ausreichend Gewicht, um sich bemerkbar zu machen. „Kinde“ und „Gott“ nehmen die Alliterationen anderer Halbverse auf; damit bleiben nur zwei von zwölf Hebungen, die sich nicht an diesem Klangspiel beteiligen!

Wo die Klangwirkung so in den Vordergrund tritt, muss die Versbewegung ein wenig zurücktreten, und das tut sich hier auch – vor allem im Hexameter, der sehr „amphibrachisch-eintönig“ wirkt, teilt man ihn nach Sinneinheiten ab:

Preise / dem Kinde / die Puppen, || wofür es / begierig / die Groschen

Fünf der in Bezug auf die Bewegung bestenfalls unauffälligen ◡ — ◡ nacheinander! Aber wenn man auf diese Gefahr aufmerksam wird, kann man die Silben in der zweiten Vershälfte leicht anders ordnen und vortragen:

Preise / dem Kinde / die Puppen, || wofür / es  begierig / die Groschen

So klingt es ausreichend abwechsungreich: Das „es“ wird in die vorletzte Sinneinheit gezogen, wodurch ein ◡ — / ◡ ◡ — ◡ entsteht!