Erzählverse: Der trochäische Vierheber (54)

Gelegenheits- und Anlassgedichte haben ihren ganz eigenen Reiz. Christoph Martin Wieland schieb die folgenden Verse (in etwa die erste Hälfte des ganzen Textes) anlässlich der Geburt des Sohnes  von Prinzessin Caroline von Sachsen-Weimar, mit der er eng befreundet war:

 

In des Morgens stiller Frühe,
wenn, aus Äther leicht gebildet,
holde Träume uns umflattern,
sah ich einen schönen Engel
aus der Morgenröte langsam
sich zur Erde nieder senken,
ein Gewächs des Paradieses
in den Rosenarmen tragend,
um es in den Schoß der Erde
zu verpflanzen. Und der Engel,
auf das Kind des Paradieses
liebevolle Blicke heftend,
„Wachse“, sprach er, „holde Blume,
wachse, blühe und gedeihe
unverwelklich, und erfreue
alle Augen, alle Herzen!“

 

Das ist schwerlich große Dichtung; trotzdem sind es reizvolle Verse, auch, weil der unübertroffene Reimkünstler Wieland hier einmal auf den Reim verzichtet und den gereihten trochäischen Vierheber verwendet, der allerdings von Wielands unglaublich sicherem Gefühl für Wohlklang und Verhältnis nicht weniger stark gestaltet und geformt wird! Einfach sprechen, und zuhören: Dann wird das offenbar.

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