Erzählverse: Der Hexameter (93)

Hört man zum ersten Mal von Regeln wie der in (92) beschriebenen, scheinen sie herzlich überflüssig zu sein: Welche Bedeutung kann es für einen Vers haben, ob und wie oft nacheinander ein bestimmter „Wortfuß“ in ihm vorkommt?!

Hört man aber genauer hin, wird klar, die Bedeutung ist gewaltig; denn die „Wortfüße“, was ja die Sinneinheiten meint, sind, was das Ohr schlussendlich wahrnimmt an Bewegung und rhythmischer Gestaltung!

Die folgenden Hexameter stammen aus Johann Heinrich Voß‘ „Der siebzigste Geburtstag“. Wer mag, kann ja einmal versuchen, in ihnen die Sinneinheiten aufzuspüren!

 

Jetzo sah sie hinaus, wie die stöbernden Flocken am Fenster
Rieselten und wie der Ost dort wirbelte, dort in den Eschen
Rauscht‘ und der hüpfenden Kräh’n Fußtritte verweht‘ an der Scheuer.
Lange mit ernstem Gesicht, ihr Haupt und die Hände bewegend,
Stand sie vertieft in Gedanken und flisterte halb, was sie dachte:
„Lieber Gott, wie es stürmt, und Schnee in den Gründen sich anhäuft!“

 

Welche Sinneinheiten man wahrnimmt, hängt auch immer von der Sprechgeschwindigkeit ab, es gibt also manchmal mehr als eine Möglichkeit; ich für mich würde die Verse so abteilen:

Jetzo / sah sie hinaus, / wie die stöbernden / Flocken / am Fenster
— v / — v v — / v v — v v / — v / v — v

Rieselten / und wie der Ost / dort wirbelte, / dort in den Eschen
— v v / — v v — / — — v v / — v v — v

Rauscht‘ / und der hüpfenden Kräh’n / Fußtritte / verweht‘ / an der Scheuer.
— / v v — v v — / — — v / v — / v v — v

Lange / mit ernstem Gesicht, / ihr Haupt / und die Hände / bewegend,
— v / v — v v — / v — / v v — v / v — v

Stand sie / vertieft / in Gedanken / und flisterte halb, / was sie dachte:
— v / v — / v v — v / v — v v — / v v — v

„Lieber Gott, / wie es stürmt, / und Schnee / in den Gründen / sich anhäuft!“
— v — / v v — / v — / v v — v / v — —

– Nun war Voß jemand, der auf die rhythmische Gestaltung seiner Verse sehr geachtet hat; das bemerkt man hier! Nicht nur, dass dieselbe Sinn- und damit Bewegungseinheit kein einziges Mal zwei- oder gar dreimal aufeinanderfolgt; es ist sogar die Ausnahme, dass überhaupt zwei gleiche Einheiten im selben Vers auftauchen!

Bemerkenswert auch, wie stark sich jeder Vers in der Bewegung vom vorigen und vom folgenden unterscheidet.

Die „Amphybrachen“, also Wortfüße der Form „v — v“, die sich im Deutschen sehr leicht einstellen, aber den Vers matt machen, sind fast gar nicht vertreten!

Eine eigene Anmerkung wert ist sicher auch der letzte Vers, in dem der ja eigentlich daktylisch-fallende Hexameter nach einem „Umschalter“ (hier das „— v —“) nur noch steigende Wortfüße aufweist, vier an der Zahl, allesamt unterschiedlich; und dadurch schnell und fortreißend wird!

Und es ließe sich noch manches mehr finden. Nun muss man Hexameter nicht mit einem derartigen rhythmischen Aufwand schreiben, Goethe hat das auch nicht gemacht und trotzdem wunderbare Hexameter geschaffen; aber hineinschauen in die Maschinenräume solche Verse, und zu verstehen versuchen, woher die Bewegung stammt und warum sie welche Wirkung hat: das ist für das eigene Schreiben unendlich wertvoll.

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