Erzählverse: Der Hexameter (92)

Kein Vers ist von den Metrikern, vor allem denen des 19. Jahrhunderts, so mit Regeln überzogen und so durch Regeln gelähmt worden wie der Hexameter; was um so schlimmer ist, als es noch nicht einmal die gleichen Regeln sind bei den verschiedenen Theoretikern, sondern oft genug der eine „Hü!“ ruft, wo der andere „Hott!“ schreit. Trotzdem lohnt sich der Blick in die entsprechenden Texte!

Man darf nur nicht für unumstößlich nehmen, was da alles geschrieben steht, sondern sollte es für sich bedenken und dann nach der Brauchbarkeit für den eigenen Vers einschätzen und beurteilen.

Ich nehme ein Beispiel aus der „Kurzgefaßte Verslehre der deutschen Sprache: zum Schul- und Haus-Gebrauch“ (was ein Titel) von Karl Wilhelm Ludwig Heyse (1825). Heyse merkt an, dass im Hexameter gleiche „Wortfüße“ (in etwa: Sinneinheiten) nicht häufiger als zwei Mal hintereinander stehen dürfen, da sonst die rhtyhmische Vielfalt, auf die der Hexameter ja angewiesen ist, verloren geht. Das ist soweit und als Daumenregel ein guter Hinweis, denke ich!

Dann aber: „Nur der Anapäst darf als Wortfuß dreimal wiederkehren“. Aha?! Als Beispiel dient ein Vers aus Klopstocks „Messias“,

Eile dahin, / wo der Tod, / und die Nacht, / und das Grab / dich erwarten!

Ohne Zweifel ein wirkmächtiger Vers, gerade wegen der drei „anapästischen Wortfüße“ in der Versmitte („wo der Tod“, „und die Nacht“, „und das Grab“); ist er aber auch eine Begründung für diese Ausnahme von der gerade erst aufgestellten Regel?! Es muss so sein, denn eine andere Begründung findet sich nicht.

Da hilft dann, wie immer: selber denken. Einfach Hexameter bauen, in denen die unterschiedlichen „Wortfüße“ zwei-, drei-, vier-, fünfmal aufeinander folgen; und dann laut sprechen und das eigene Ohr entscheiden lassen, was noch abwechslungsreich klingt – und was schon langweilig!

Schafft! / Und belauscht, / wie der  Vers / sich bewegt, / den ihr schuft: / dann entscheidet.

– Ein Hexameter mit vier anapästischen Wortfüßen. Wirklich nicht möglich? Oder doch?! Die Regel gibt den Anstoß zur Überprüfung;  das eigene Ohr fällt das Urteil.

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