Erzählverse: Der Blankvers (116)

Friedrich Kind lässt seine „Sterbende Äbtissin“ eine Art Lebensbeichte ablegen vor ihren Mitschwestern. Ziemlich an deren Anfang heißt es:

 

Euch ist bekannt, dass ich von hohem Stamme
Entsprossen und der Alten einz’ge Hoffnung.
Ein Jüngling edlen Blutes, edler Sitten
Hat, eh‘ mir noch der Kindheit Lenz verblühte,
Mit heißer Glut sich liebend mir ergeben.
Als Sieger stets bei Schlachten, in den Schranken,
Legt‘ er den Preis entzückt zu meinen Füßen;
Mein Sklave war der freiste aller Ritter!
Und kaum war ich herangereift zur Jungfrau,
Kaum ahnte ich im jugendlichen Busen,
Was Blumenknospen öffnet, Nachtigallen
Befeuert zu der Sehnsucht süßen Liedern;
Da widerstand ich nicht der stillen Bitte
In Guidos Augen, nicht dem eig’nen Herzen.
Im dunklen Hain, bei ferner Blitze Leuchten,
Und fordernd sie zu Zeugen und zu Rächern,
Erwiedert‘ ich den Schwur, dass nichts uns scheide.

 

– Und man ahnt: Das geht nicht gut aus. Vom Versbau her beachtenswert ist die durchgängige Nutzung von weilblichen, also unbetonten Versschlüssen; wenn der Blankvers seinen zufälligen Wechsel von betonten und unbetonten Versschlüssen zu einer Seite hin vereinheitlicht, dass meist zu ausschließlich betonten hin; hier ist das anders und hat auch eine andere Wirkung!

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