Darf man Verse aus längeren Texten herauslösen und als eigenständige Texte vorstellen?! Hm … Ich mache das gelegentlich; ein Beispiel ist ein Distichon aus Friedrich Hölderlins „Der Wanderer“. Von diesem längeren Gedicht gibt es zwei Fassungen, und in der ersten ist besagtes Distichon noch, na ja, unscheinbar:
Nichts zu erzeugen und nichts zu pflegen in sorgender Liebe,
Alternd im Kinde sich nicht wiederzusehn, ist der Tod.
Ein wenig spannungsarm?! Ein Eindruck, der auch durch den nicht recht unterteilten Hexameter zustande kommt. In der zweiten Fassung hat Hölderlin diese Schwäche behoben!
Nichts zu erzeugen ist ja und nichts zu pflegen in Liebe,
Alternd im Kinde sich nicht wieder zu sehn, wie der Tod.
Wunderbar! Durch das Einfügen des „ist ja“ bekommt der Hexameter eine schöne Zäsur; und das ganze Verspaar eine schöne Spannung durch das Auseinanderstellen des „ist ja … wie der Tod“. Dafür musste das „sorgender“ weichen, aber das ist ohnehin eines dieser Adjektive, die eher schaden als nutzen.
Mit dieser zweiten Fassung gewinnt das Distichon auch eigenständigen Charakter, finde ich; es wird epigrammtauglich. Epigrammtische Distichen sind im allgemeinen klarer, schärfer im Aufbau im Vergleich zu elegischen Distichen – hier ist es das elegische Distichon auch; im zweiten Versuch.
Darum, denke ich, kann es auch für sich stehen, ohne den Bezug auf den restlichen „Wanderer“. Den zu lesen aber trotzdem lohnt – es sind viele wunderbare Verse drin. Die sich herauslösen lassen; auch einzelne Hexameter aus der Distichoneinheit, zum Beispiel.
Unter dem Strauche saß ein ernster Vogel gesanglos
Ein herrlicher Vers auch das!