Erzählformen: Das Reimpaar (9)

In (8) war zu sehen und zu hören, wie auch der iambische Vierheber, als Bestandteil eines Reimpaares, durch kleine Abweichungen aufgelockert werden kann. Wie weit man dabei gehen kann, ohne dass der Vers seine Wiedererkennbarkeit verliert, ist eine spannende Frage! Ich stelle drei Auschnitte aus Gedichten Heinrich Heines vor, zuerst den Anfang von „Babylonische Sorgen“:

 

Mich ruft der Tod – Es wär’ noch besser,
Müsst’ ich auf hohem Seegewässer
Verlassen dich, mein Weib, mein Kind,
Wenn gleich der tolle Nordpol-Wind
Dort peitscht die Wellen, und aus den Tiefen
Die Ungetüme, die dort schliefen,
Haifisch’ und Krokodile, kommen
Mit offnem Rachen emporgeschwommen –
Glaub’ mir, mein Kind, mein Weib, Mathilde,
Nicht so gefährlich ist das wilde,
Erzürnte Meer und der trotzige Wald,
Als unser jetziger Aufenthalt!

 

Der etwas verwunderliche „Wald“ wird in den vohergehenden Versen verhandelt … Jedenfalls ist der Text zwar aufgelockert – versetzte Betonungen und eine schwebende Betonung am Versanfang, wiederholte zweisilbig besetzte Senkungen (aber nur einmal zwei davon im selben Vers) -, doch der Vers ist immer noch gut als iambischer Vierheber zu erkennen:

x X / x X / x X / x X / (x)

Der zweite Abschnitt stammt aus „Rückschau“ (= Lazarus III):

 

Ein Lorbeerkranz umschloss die Stirn,
Er duftete Träume mir ins Gehirn,
Träume von Rosen und ewigem Mai –
Es ward mir so selig zu Sinne dabei,
So dämmersüchtig, so sterbefaul –
Mir flogen gebratne Tauben ins Maul,
Und Englein kamen, und aus den Taschen
Sie zogen hervor Champagnerflaschen –
Das waren Visionen, Seifenblasen –
Sie platzten – Jetzt lieg ich auf feuchtem Rasen,
Die Glieder sind mir rheumatisch gelähmt,
Und meine Seele ist tief beschämt.

 

Hier hört sich die Sache anders an?! Der erste Vers ist zwar ein fester iambischer Vierheber, aber schon der zweite und der dritte weisen zwei doppelt besetzte Senkungen auf, und im vierten sind gleich alle drei Senkungen im Versinnern doppelt besetzt!

Es ward / mir so se– / lig zu Sin– / ne dabei,

x X / x x X / x x X / x x X

Und wenn auch die folgenden Verse diesen Wert nicht mehr erreichen, ohne doppelt besetzte Senkung kommt keiner aus. Das ist, denke ich, schon kein iambischer Vierheber mehr, sondern ein freierer Vers, den man so darstellen kann:

x X / x (x) X / x (x) X / x (x) X / (x)

(Mit X = betonte Silbe, x = unbetonte Silbe, (x) = unbetonte Silbe, die stehen kann, aber nicht muss.)

– Und der iambische Vierheber ist dann eine Möglichkeit unter vielen, die dieser (schöne!) Vers zur Verfügung hat bezüglich seiner Bewegunglinie!

Ich habe ihn auch schon einmal kurz vorgestellt hier beim Verserzähler – in Der Knittel (5). Dort mit dem Hinweis, es sei ein „mäßig freier Vers“. Eben ein Vers in der Mitte, genau zwischem dem sehr strengen Auf und Ab des iambischen Vierhebers und der unüberschaubaren Bewegungsvielfalt des Knittels!

Der dritte Abschnitt ist die erste Hälfte von „Leib und Seele“:

 

Die arme Seele spricht zum Leibe:
Ich lass nicht ab von dir, ich bleibe
Bei dir – Ich will mit dir versinken
In Tod und Nacht, Vernichtung trinken!
Du warst ja stets mein zweites Ich,
Das liebevoll umschlungen mich,
Als wie ein Festkleid von Satin,
Gefüttert weich mit Hermelin –
Weh mir! jetzt soll ich gleichsam nackt,
Ganz ohne Körper, ganz abstrakt,
Hinlungern als ein sel’ges Nichts
Dort oben in dem Reich des Lichts,
In jenen kalten Himmelshallen,
Wo schweigend die Ewigkeiten wallen
Und mich angähnen – sie klappern dabei
Langweilig mit ihren Pantoffeln von Blei.
O das ist grauenhaft; o bleib’,
Bleib’ bei mir, du geliebter Leib!

 

Viele gleichmäßige Reimpaare zu Beginn, ehe dann mit „Wo schweigend …“ drei bewegtere Verse einsetzen, deren letzter dann wieder die drei doppelt besetzten Senkungen aufweist! Aber hier ist es eben Ausnahme, nicht Regel, und das „Blei“ gleichsam Programm: Im abschließenden Reimpaar kehrt die Bewegung übergangslos zum strengen, schweren Auf und Ab zurück. Ein recht heftiger Wechsel, der aber den Unterschied in der Bewegung gut hörbar macht?!

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