Erzählverse: Der Hexameter (71)

Henry Wadsworth Longfellows „Evangeline“ (2)

Longfellows englischsprachiges Hexameterepos (das in Hexameter 13 schon einmal aufgetaucht ist beim Verserzähler) beschreibt seine Titelheldin unter anderem mit diesen Versen:

 

Fair was she to behold, the maiden of seventeen summers.
Black were her eyes as the berry that grows on the thorn by the wayside,
Black, yet how softly they gleamed beneath the brown shade of her tresses!
Sweet was her breath as the breath of kine that feed in the meadows.

 

Nun ist „Evangeline“ einige Male ins Deutsche übersetzt worden, und mit dem letzten Vers hatten die Übersetzer so ihre Schwierigkeiten. Nicht vom Versbau her, der ist übertragbar; mehr vom Inhalt her. „Süß wie der Atem des Viehs“? Wie jetzt … In Klaus Martens „Die ausgewanderte Evangeline. Longfellows epische Idylle im übersetzerischen Transfer“ (Schöningh 1989) findet sich eine Liste der verschiedenen Übersetzungen dieses Verses, wobei das in vielen Fällen eher freie Übertragungen sind.

 

Und der Hauch ihrer Lippen glich Blumendüften im Lenze

 

ist der Versuch von Friedemann (1919), der eigentlich jede inhaltliche Übereinstimmung mit dem Urtext vermeidet! Bis auf, vielleicht, de „Hauch ihrer Lippen“ – da ist dann doch ein Anklang. Und wirklich, irgendeine Verbindung gibt es immer, etwa bei Meyer (1898):

 

Sanft war ihr Herz, wie das Lamm auf der Weide geduldig und gütig.

 

Hier ist der Übersetzer mit „Weide“ Longfellow nah?! Sogar mit „Flur“ und „Herden“, aber immer noch gänzlich frei überträgt Knortz (1874):

 

Gleich den Herden der Flur war still und lieblich ihr Dasein.

 

Aber es gibt neben solchen sehr freien Übertragungen auch Versuche, den „Viehatem“ etwas überzeugender zu vermeiden.

 

Herrlich duftet ihr Odem, wie rinderernährende Matten.

 

Gasda (1863) hat alles: die Wiesen, das Vieh, das Fressen; nur den Atem des Viehs nicht, verglichen wird, etwas versteckt, wieder mit Kräutern und Blumen.

Schließlich sind da noch die Übersetzer, die es gewagt haben, den Mädchenatem und den Viehatem  zu vergleichen. Aber so ganz getraut hat sich auch Herlth (1870) nicht:

 

Und ihr Atem so süß wie der Hauch flurgrasender Kälblein.

 

Das wirkt im 21. Jahrhundert schon unfreiwillig komisch in seiner Niedlichkeit?!

Oder, wenn schon der Atemvergleich, dann nicht über das „süß“:

 

Und ihr Atem war sanft wie der Atem der weidenden Färsen

 

ist der Versuch von Hauser (1908). Und immer so weiter … Schon erstaunlich, jedenfalls von heute aus gesehen, wo gegen

 

Süß war ihr Atem, so süß wie der Atem der weidenden Kühe

 

wahrscheinlich niemand etwas einzuwenden hätte. Oder doch? Zu abwegig, der Vergleich? Zu weit an der eigentlichen, nicht-wörtlichen Bedeutung vorbei?! Jetzt müsste man des Englischen mächtig sein …

Na ja, sicherhaltshalber schließe ich mit einem Vers, der das Vorübergehen von Evangeline beschreibt, oder besser, den Moment danach:

 

When she had passed, it seemed like the ceasing of exquisite music.

 

Das ist einmal an sich ein starker Vers, und zum anderen denke ich, ohne die einzelnen Übersetzungen gesehen zu haben, dass sich die allermeisten Übersetzer hier wohl und zu Hause gefühlt haben!

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