König Siwi
Friedrich Rückert war wahrhaft ein Mann vieler Sprachen und gilt als einer der Begründer der deutschen Orientalistik. Er hat dabei zahllose Texte übersetzt, darunter auch in Hexameter; in seinem Liedertagebuch für 1853 findet sich zum Beispiel „König Siwi. Eine indische Legende“. Diese Legende ist gerade so lang, dass man sie am Bildschirm noch lesen kann:
Siwi den König zu prüfen, verwandelten einst sich die Götter,
Indra zu fliehender Taube, zu jagendem Habichte Jama.
Wie vorm Tode das Leben, so floh vorm Herren der Toten
Scheu als Taube der Herr des Lebendigen, Indra vor Habicht
Jama, dem unablässig verfolgenden; aber die Taube
Flüchtete, rettete sich zum offenen Schoße des Königs,
Wo sie sich barg und schmiegte, vertrauensvoll. Aber von oben
Sprach zum König herab mit menschlicher Rede der Habicht:
„Gib mir heraus mein Futter! Ich hab ein Recht an der Taube;
Vorenthalte mein Recht mir nicht, rechtliebender König!“
Doch ihm sagte darauf der schützlingsschützende König:
„Habicht, fordre was anders von mir! Fleisch ist sie von meinem
Eigenen Fleische geworden; vom eigenen Fleische dir lieber
Wollt‘ ich geben dein Futter.“ „Wohlan!“ so sagte der Habicht,
Und ihm schwebt‘ an der Klau’n eine goldene Waage hernieder:
„Willst du mir hier aufwägen mit eigenem Fleische die Taube?“
„Ja!“ sprach mutig der König; er setzte die Taub in die eine
Schal‘, und legte soviel vom eignen Fleisch in die andre,
Als zum Gegengewichte der schmächtigen schien zu genügen.
Doch es genügete nicht: Schwer ward und schwerer die Taube,
Und wog auf vom Fleische des Königes, was er hinzutat;
Bis er ganz in die Waage mit wuchtendem Leib sich legte:
Da zog nieder die Schale des Königes. Aber der Habicht
Sprach, zum Gotte gewandelt: „Zu leicht nicht bist du befunden,
Heil dir, König, im Leben; im Tode dir Heil, o König!
Das ist Indra, der Hort des Lebendigen; Jama, der Toten
Meister bin ich; du bestandest die Prob‘ in der Waage des Todes.
Indra, beschützt von dir, wird dich im Leben beschützen,
Und ich werde dir sein ein gnädiger Richter im Tode.“
Das klingt ein einigen Stellen etwas eigenartig, oder? Ich denke mal (ohne irgendeine wirkliche Ahnung zu haben), Dinge wie der „schützlingsschützende“ König beruhen in dieser oder jener Weise auf der Vorlage; andere rühren vom Bau des Hexameters her, etwa in diesem Vers:
Habicht, / fordre was / anders von / mir! || Fleisch / ist sie von / meinem
Da tragen das Pronomen „mir“ und das Hilfsverb „ist“ die Betonungen, und das mächtige Wort „Fleisch“ sitzt dazwischen auf der Senkungsposition! Da bleibt dann keine Möglichkeit, als einen „Spondäus“ zu lesen, also „mir“ und „Fleisch“ gleichstark zu betonen, und dann auch das „ist“ stärker hervorzuheben, was ja auch passt: Sie ist es – wirklich, tatsächlich!
Derlei Dinge gibt es noch mehr, aber sie fügen sich alle wunderbar ein. Das merkt man, wenn man den Text anderen vorliest – einmal gleitet man wirklich schön durch die Zeilen, und zum anderen sind die Zuhörer von Anfang an aufmerksam und bleiben es auch. So war es jedenfalls bisher bei mir.