Die erste Strophe von Johann Heinrich Voß‘ „Die Braut am Gestade“ liest sich so:
Schwarz wie Nacht, brausest du auf, Meer!
Wie wogt, wie krümmt sich und schäumt Brandung!
Wer? o Gott! fliegt in dem Sturm? Wer?
Und fleht, die Hände gestreckt, Landung?
Ein weites Grab
Wogt furchtbar zum Tod winkend!
Auf rollts und ab,
Nun strudelt das Schiff sinkend!
Wer mag, kann sich ja einmal die Verteilung der schweren und leichten Silben überlegen?! Voß besetzt hier die schweren, betonten Stellen recht durchgängig mit Sinnsilben (Substantiv, Adjektiv, Verb, Adverb), die leichten, unbetonten Stellen mit Bausilben; es sollte also recht eindeutig sein. Ich schreibe noch einige Sätze allgemeiner Art zum Text und gebe das Schema dann weiter unten an!
Der Text wirkt ungewohnt. Das liegt sicher vor allem daran, dass er gereimt ist, aber das „Auf und Ab“, den regelmäßigen Wechsel von betonten und unbetonten Silben, an das man so sehr gewöhnt ist bei gereimten Texten, nirgends verwirklicht. Stattdessen tummeln sich sehr viele schwere Silben in den Versen, oft auch in unmittelbarer Nachbarschaft!
Trotzdem beachtet Voss eine Eigenheit des Reimverses fast durchgängig: Verse, die durch Reime verbunden sind, also den gleichen Klang am Versende aufweisen, haben auch dieselbe Silbenverteilung, die den Leser / Hörer zu diesem Gleichklang hinführt! Obwohl das nicht für alle Reimverse gilt, für die meisten ist es so; und das Ohr ist daran gewöhnt. Geleistet wird so die Schaffung einer Erwartungshaltung, ein Warten und Abzählen: „Der Reim kommt … jetzt!“ Und diese Möglichkeit bietet dann auch der Voßsche Text, obwohl sicherlich nur eingeschränkt; zu fremd ist die gewählte Bewegungslinie …
Das zweistrophige Gedicht ist von Karl Friedrich Zelter auch vertont worden. Wer irgendwo eine Aufnahme findet, sollte vergleichen, wie Zelter die „leichten“ und „schweren“ Stellen in Musik gebracht hat, zum Beispiel, welche Zeitwerte er den schweren Silben zugewiesen hat!
Wie sieht die Verteilung der Silben nun aber aus? So:
TAM ta TAM TAM ta ta TAM TAM
ta TAM ta TAM ta ta TAM TAM ta
TAM ta TAM TAM ta ta TAM TAM
ta TAM ta TAM ta ta TAM TAM ta
ta TAM ta TAM
TAM TAM ta ta TAM TAM ta
TAM TAM ta TAM
TAM TAM ta ta TAM TAM ta
Die angesprochene Versgeichheit ist überall gegeben, die einzige Ausnahme ist der siebte Vers, dessen erste Silbe nicht „ta“ ist, wie im fünften Vers, sondern „TAM„. Gegen die Zuordnung „Schwere Silbe = Sinnwort“ verstößt nur das doppelte „Wer“, was aber als eine „Ein-Wort-Frage“ erscheint und dadurch ausreichend Gewicht hat! Streiten könnte man über das „Nun“ im Schluss-Vers, aber ich denke, es klingt nicht falsch, wenn man es „schwer“ liest?!
Ansonsten wirkt der Text sehr unruhig, viele nachdrückliche, aber schräg klingende Bewegungen sind dabei. Das liegt sicher auch an dieser Einheit: „ta TAM TAM ta“, die einige Male vorkommt: „und schäumt Brandung“, „zum Tod winkend“, „das Schiff sinkend“. Sehr ungewohnt, weil in einem gewöhnlichen Reimtext unmöglich; aber auch sonst selten! Trotzdem von nachdrücklicher Wirkung, und wenn man diese Einheit gelegentlich bewusst einsetzt, lässt sich damit viel erreichen. Ich werde daher noch auf sie zurückkommen!
(Hat jemand die Verteilung zu finden versucht? Ist es geglückt? Ja?! Sehr gut!)