Erzählformen: Das Distichon (72)

Manchmal taucht ein Distichon gänzlich unerwartet auf, so zum Beispiel in Franz Freiherr Gaudys „Mein Römerzug“, wo es im Kapitel „Ferrara und Fahrt bis Villa di San Bartolomeo“ anlässlich der in einer Kirche zu findenden Bilder, die der Reihe nach geschildert werden, heißt:

Die krüdeste Barberei, welche jemals der Kunst Gewalt antat, grenzt in San Francesco an die anmutigen Schöpfungen Tisis. Ein mit schwarzem Talar umkleideter Heiliger schwebt in den Lüften und hält einen jungen Mann, in der Stutzertracht der zwanziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, mit wohlgepuderten Locken, steifen Rockschößen, Brokatweste und Escarpins, bei den Haaren, um wie ein Raubvogel mit dem zappelnden Küchlein abzufahren. Die Umstehenden drücken pantomimisch ihr billiges Entsetzen über diesen neuen Ganymedes-Raub aus – ein kleines Bübchen läuft erschrocken davon – das Hündlein springt kläffend in die Höhe. Holt den jungen Mann der böse Feind? Tout au contraire. Das erläuternde Distichon vermeldet:

Cum secum rapto summam circumvolat aedem,
Joseph hinc Fatuo reddita mens iuveni est.

Unschlüssig wie der neue Pausias fragte ich:

Was bewundr‘ ich zuerst: die Kur, die schöne Legende,
Oder das treffliche Bild, oder den zierlichen Vers?

und zog aus, um den Kerker aufzusuchen, in welchem Tasso sieben Jahre geschmachtet, weil er, um mich des naiven Ausdrucks meines Reisehandbuchs zu bedienen. „das Unglück gehabt hatte, die Schwester des Fürsten zu lieben.“ Die Denkwürdigkeiten eines Gefängnisses üben sonst nur mittelmäßige Anziehungskraft auf mich aus – romatische Weiblein in meiner Heimat hatten es mir jedoch zur Gewissenssache gemacht, dies klassische Arrestlokal zu besuchen, und Eine derselben sogar den Füßen, welche gewürdigt worden, den heiligen Boden zu betreten, ein Paar genähter Pantoffeln gelobt. Der Pantoffelgewalt aber widerstehe ein Anderer.

Das liest sich, mit seinen sogar zwei Distichen (einem deutschen und einem lateinischen), nun … unterhaltsam? Man könnte manches dazu sagen, sicherlich; ich belasse es aber bei dem Hinweis, dass „Der neue Pausias und sein Blumenmädchen“ ein Gedicht Goethes ist, und Gaudy hier ein Distichon daraus abwandelt – bei Goethe heißt es:

Was bewundr‘ ich zuerst? Was zuletzt? Die herrlichen Blumen?
Oder der Finger Geschick? Oder der Wählerin Geist?

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