Erzählverse: Der Blankvers (92)

Rudolf Borchardt hat einmal in Bezug auf die Übersetzungsarbeit angemerkt, Wielands Horaz sei ein Kunstwerk Wielands, und erst in einem sekundären und tertiären Sinne das, was man eine Übersetzung nennt. Da hat er recht:

 

Geh, Muse, wenn ich bitten darf, und bring
dem Celsus, Nerons Freund und Schreiber, meinen Gruß,
und meine besten Wünsche. Fragt er dich,
wie mirs ergeh, so sag ihm, dass ich, bei den schönsten
Entschließungen, doch weder für die Weisheit
noch fürs Vergnügen lebe – nicht, weil etwa
der Hagel meinen Wein zerschlagen, oder
die Hitze meinen Ölbaum ausgedorrt,
und unter meinen Herden, die den Klee
entlegner Fluren mäh’n, die Seuche wütet –
bloß, weil ich schwach am ganzen Leib‘, und leider
noch schwächer am Gemüt, nichts hören will,
was etwa meine Krankheit lindern könnte,
mich von der Ärzte gutem Rat gar sehr
beleidigt find‘, und meinen Freunden zürne,
die mir den schlimmen Dienst erweisen und
aus meiner Schlafsucht mich zu rütteln suchen:
kurz, alles haben will, was mir schon oft
geschadet hat, und alles fliehe, was
mir, wie ich glaube, heilsam ist; zu Rom
mich stets nach Tibur sehne, und zu Tibur
nach Rom. Dann, Muse, frag ihn, wie er sich
befinde, wie er seine Sachen treibe,
und wie er mit dem edeln Jüngling, wie
mit seinen Kameraden stehe? Spricht er: wohl!
so sag ihm, dass michs freue; doch, vergiss
mir ja nicht, diese kleine Lehre ihm
ins Ohr zu flüstern: So, wie du das Glück,
so werden wir, Freund Celsus, dich ertragen.

 

– Denn die Art, wie Christoph Martin Wieland hier die Hexameter Horaz‘ aus dessen Brief an besagten Celsus in iambische Verse umformt, Blankverse zumeist, aber ohne Scheu vor dem gelegentlichen Vier- oder Sechsheber: das ist wirklich eine ganz eigene Kunst. Und eine große.

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