Goethes Wilhelm Tell
Johann Peter Eckermanns „Gespräche mit Goethe“ sind ein Buch, in das immer mal wieder hineinzuschauen sicher lohnt. Der Eintrag „Sonntag, den 6. Mai 1827“ berichtet von Goethes Plänen aus dem Jahre 1797, die Sage vom Tell als episches Gedicht in Hexametern zu behandeln. Goethe berichtet dann, wie er sich den Tell gedacht hatte, wie den Geßler, und vieles mehr; dann fährt er fort:
Von diesem schönen Gegenstande war ich ganz voll, und ich summte dazu schon gelegentlich meine Hexameter. Ich sah den See im ruhigen Mondschein, erleuchtete Nebel in den Tiefen der Gebirge. Ich sah ihn im Glanz der lieblichsten Morgensonne, ein Jauchzen und Leben in Wald und Wiesen. Dann stellte ich einen Sturm dar, einen Gewittersturm, der sich aus den Schluchten auf den See wirft. Auch fehlte es nicht an nächtlicher Stille und an heimlichen Zusammenkünften über Brücken und Stegen.
Von allem diesem erzählte ich Schillern, in dessen Seele sich meine Landschaften und meine handelnden Figuren zu einem Drama bildeten. Und da ich andere Dinge zu tun hatte und die Ausführung meines Vorsatzes sich immer weiter verschob, so trat ich meinen Gegenstand Schillern völlig ab, der denn darauf sein bewunderungswürdiges Gedicht schrieb.
Und so bekam die Welt dann den Schillerschen Tell. Nicht dass ich den missen möchte, aber die Schilderung Goethes lässt mich doch eine Art von Verlust empfinden über etwas, das es gar nicht gibt. Was wären das für Hexameter gewesen, mit denen Goethe See und Sturm und Zusammenkünfte geschildert hätte? Hätten sie gehalten, was seine dreißig Jahre später gesagten Worte versprechen? Bestimmt! Großartige Verse, Sprache nicht mehr, sondern schon Gesang, so wie er eben die gelegentlichen Hexameter nicht gemurmelt, sondern gesummt hat; leise gesungen.