Erzählverse: Der Blankvers (51)

Der folgende Blankvers-Text von Marie Luise Kaschnitz ist zuerst im August 1943 veröffentlicht worden, mitten im Krieg; in einer Frankfurter Zeitung. Ich habe ihn aber den „Gesammelten Werken“ der Verfasserin entnommen, dem fünften Band, herausgegeben von Büttrich und Miller, erschienen 1985 im Insel Verlag; dort stehen die Verse auf Seite 118.

 

Wenn Unterwelt noch ist, ein Reich der Schatten,
Wenn noch ein Strom die dunkle Grenze bildet
Und noch ein Fährmann seinen Nachen führt,
Dann ist ein Drängen jetzt von jungen Seelen
Am öden Ufer und ein schrecklich stilles
Hinübermüssen und Zurückverlangen
Ein Ungesättigtsein von so viel Mündern
Ein Schrei nach Welt aus so viel stummen Kehlen
Ein letztes Ringen um das große schöne
So jähen Mutes abgetane Sein –

Doch unter allen diesen wandert heute
Wie ehedem der eine oder andre,
Der länger nicht, doch inniger gelebt.
Dem war ein Tag soviel wie tausend Tage
Und jede Blüte eines Sommers Fülle
Und jede Frucht des ganzen Herbstes Glanz.
Und da gleich einer einzigen Lebensstunde
Das Leben ihm verschwenderisch verflogen
Und er das Wort Vergänglichkeit zu üben
Im trunknen Lobgesang nicht Muße fand

Liegt auf dem Antlitz ihm ein letztes Strahlen
Des süßen Lichts. Ruhig herrscherlich
Tritt er den Fährmann an, die grausen Schluchten
Umfliegt sein Blick wie einst Campaniens Küsten
Und angelangt in Sumpf und Nebelschwaden,
Geht er die Stirn im reinen Quell zu baden
Und findet Asphodelos in den Wüsten
Und Eichenschatten. Und Elysium.

 

– Da ließe sich über das Wann und Wo und Wie sicher manches denken und sagen?! Die Blankverse jedenfalls sind sichere, ruhig-klare, würdevolle Räume, in denen der Inhalt gut aufgehoben ist.

Was mich ein wenig erstaunt hat, ist das „letzte Strahlen des süßen Lichts“, oder eigentlich sogar nur das „süße Licht“. Das ist so ein Ausdruck, der immer mal wieder auftaucht, und dem nachzuspüren man sich vornimmt; und es dann doch nicht tut.

.                                               … , die Sonne sinkt hinter dem Gipfel
Purpurner Berge hinab, noch scherzen in ihrem Strahle
Sorglose Eulchen dem Tod entgegen und atmen des Lichtes
Süßen Überrest ein. …

Das hat, fast 200 Jahre vor dem Text von Kaschnitz, Christoph Martin Wieland geschrieben in seinem in Hexametern verfassten „Frühling“ – auch eine ganz eigene Stelle, finde ich; und auch wenn „süß“  gar nicht unmittelbar auf „Licht“ bezogen wird, war das wohl meine erste Begegnung mit diesem Begriffspaar. Früher konnte so vieles „süß“ sein, was es heute längst nicht mehr kann … Schade eigentlich?! Und schön, dass es bei Kaschnitz eben doch noch geht, auch und vielleicht gerade in einem „antiken“ Rahmen.

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