Erzählverse: Das Distichon (79)

Friedrich Gundolf hat in Bezug auf Goethes „Römische Elegien“ und „Venetianische Epigramme“ einmal das hier zur „verschiedenen Behandlung des Distichons in den Elegien und in den Epigrammen“ geschrieben:

Hexameter und Pentameter bilden bei den Elegien eine ineinandergreifende Einheit, mit mehreren EInheiten ihresgleichen zu einem Ganzen verknüpft. Der Pentameter führt weiter, unterstreich, betont oder verdeutlich, was im Hexameter angelegt ist, er läuft in derselben gedanklichen Richtung weiter, in derselben Welle, und wie Pentameter auf Hexameter, so folgt Distichon auf Distichon. In den Epigrammen ist dagegen entweder der Hexameter dem Pentameter antithetisch gegenübergestellt, wie den zweizeiligen, oder eine Gruppe von Distichen einer anderen, wie bei den mehrzeiligen, oder der pointierte Schlussvers dem ganzen Gedicht.

Soweit verständlich und eigentlich nicht nur bei Goethe anzutreffen, sondern allgemein. Gundolf weiter:

Diese Gegenüberstellung beruht entweder auf einer einfachen Antithese zweier Anschauungen oder Begriffe oder auf der Antithese einer Lehre und einer Anschauung, einer Nutzanwendung und einer Erfahrung; oder eine Pointe wird herausgearbeitet in Gestalt einer Überraschung, welche durch Frage oder Erwartung vorbereitet wird. Allen drei Typen der Gegenüberstellung gemeinsam ist die Spannung zwischen der Vorstellung und dem Begriff, denn selbst wo zwei Vorstellungen oder Namen konfrontiert werden, kommt es auf die Spannung zwischen Geschehenem und Gedachtem, Erfahrung und Lehre an: Dies ist Goethes Tribut an die Gattung Epigramm.

Und dann, Goethes Vorgehen noch einmal knapp und klar zusammenfassend:

Aber Goethe gewinnt im Gegensatz zu anderen Epigrammatikern diese Spannung nicht durch Zusammenzwängen zweier heterogener Dinge, sondern durch Spaltung und Entfaltung eines Zusammengehörigen in verschiedene seiner Elemente.

Darüber lässt sich nachdenken, am besten über die Venetianischen Epigramme gebeugt!  Über deren Inhalt Gundolf in Bezug auf Goethe noch einen überraschenden Satz zu sagen weiß:

Nicht sein Ich, sondern sein Selbst wird ausgesprochen.

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