Karl Ludwig von Knebel: Hymnus an Selene
In: K. A. Varnhagen von Ense und Th. Mundt (Hrsg.): Karl Ludwig von Knebel, Literarischer Nachlass und Briefwechsel, erster Band, Reichenbach, Leipzig 1835, S. 5-7.
Dich auch will ich begrüßen im feiernden Tone des Liedes,
Holde Gespielin der Nacht, Vertraute schweigender Stunden,
Führerin jenes Chors, der nächtlich leuchtet am Himmel,
Glänzender Spiegel des Tags, du helle Knospe der Erde!
5 Zwar die Veränderlichste von allen bist du; denn immer
Wechselt die hohe Gestalt, und zeigt und bildet sich anders:
Aber du bist die Schönste, der Himmelstöchter die schönste.
Hat sich der müde Tag nun unter Rosen begraben,
Und die Fackel des Lichtes der unteren Erde gesendet,
10 Steigst du empor an der Bühne des Himmels, ein glänzender Lichtball,
Und umwebest mit Gold die breiten Säume des Äthers.
Immer herrlicher wächst der glänzende Strahl, bis er endlich
Über des Waldgebirgs erhabenen Gipfeln hervorbricht,
Und ins dämmernde Tal die lichten Fluten ergießet.
15 Wundergestalten verbreiten sich hier, in der Näh‘, in der Ferne;
Strecken in Riesenschatten sich aus, umschweben des Waldsees
Schimmerzerflossenen Duft, und leuchten und sprühen in Funken
Von dem gießenden Bach, und lauschen im düstern Gesträuche.
Welch ein magischer Glanz erfüllt und begeistert die Gegend!
20 Kommst du selber herab von deinem Himmel, o Göttin?
Unter der Fichten hohem Gewölb‘ erblick‘ ich mit Schauder
Schon dein Drachengespann. Wie funkeln die quellenden Augen,
Und der schuppige Leib! Wie leuchtet der goldene Wagen!
Selige Göttin, komm! In deinen Armen ist Friede,
25 Und der bezaubernde Wahn, und Vergessenheit irdischer Dinge.
Einsam hast du nunmehr den Thron des Himmels bestiegen,
Herrschend über die Welt. In unverrücketer Heitre
Sitzest du da, und sendest herab die tauigen Strahlen,
Oder versammelst um dich den Hof lichtgkänzender Wolken.
30 Feierlich nahen sie sich in weitumkreisenden Haufen,
Huldigend still, o Königin, dir! Oft schickst du den Westwind
Unter sie, und er verjagt ihr dünnzerfließend Gewebe,
Fährt sie in buntem Glanz an deinem Lichte vorüber.
Dann auch scheinest du selbst ein leichteres Spiel zu beginnen,
35 Schlüpfest unter sie hin, und erscheinst und verbirgest dich wieder.
Wer kann alle sie singen, die Freuden, die du gewährest?
Zahllos sind die Geschenke der Ewigen: Sie zu verehren
Ist der Sterblichen Pflicht, zu preisen in ewigen Hymnen.
Groß ist über die Welt die Macht des herrlichen Titans,
40 Und er rufet die Wesen hervor, und belebet sie alle:
Aber den Zepter der Macht verlieh er der Schwester, damit sie
Milder dieselbe beherrsche. Wer würde die Einsame loben,
Wer ihr finsteres Reich und die dunkeln verlassenen Schatten,
Wann nicht sie sie erfreute mit Licht, sie durch Wechsel ergötzte?
45 Immer gehorchend folgt sie daher dem Winke des Bruders,
Leihet von ihm den schimmernden Glanz; doch hat sie den Einfluss
In sein mächtiges Reich durch sanftere Wechsel erhalten;
Ändert der Winde bewegliches Chor, gebietet den Stürmen,
Und lässt heitere Luft und milde Regen hervorgehn.
50 Muse des denkenden Mannes, du, meine Freundin, wie oftmals
Hängt mein Blick noch an dir un mitternächtlichen Stunden!
Auf von den Schatten der Erde, den trüben verworrenen Schatten,
Ziehst du mich hin zu Gefilden des reinen ätherischen Himmels:
Leite mich oft uzu dir in die lichtdurchwalleten Fluren!
55 Bist du auch, was sie sagen, ein Land, mit Bergen und Tälern
Ausgeschmückt, und gleich der niedern bewohneten Erde:
Führe mich hin von dem Schutt der schon veraltenden Erde,
Künftig hinauf zu dir, in die neubelebeten Sitze:
Führe mich, wenn du sie hast. in die stillen Auen des Friedens!