Die Gletscher bei Grindelwald
In: Gotthold Friedrich Stäudlin, Gedichte, Erster Band, Mäntler, Stuttgart 1788, S. 93–102.
Ja! Ich hab‘ euch gesehn, die ihr auf Wirtembergs Feste
Schon die staunende Seele zum Lobgesange begeistert,
Ja, ich hab‘ euch gesehn, Helvetiens Riesengebirge!
Euch gesehn und gefühlt in seiner unnennbaren Größe,
5 Der euch türmt‘ in die Wolken und über euch stellte die Sonne,
Ihn so groß und den Menschen so klein! – Mit schlotternden Knien,
Keuchender Brust und schwimmendem Aug‘ und tropfender Stirne
Klomm ich die Felsen hinan! Sie hingen mir über dem Haupte
Furchtbar und schwarz wie ein Wetter und senkten sich dicht an den Füßen
10 Säulenähnlich hinab in den ungemessenen Abgrund,
Bis zu den Schlünden hinunter des tausendjährigen Eises,
Welches in Pyramiden sich majestätisch emporhebt.
Hätte des Klimmenden Fuß auf dem Felsenpfade geglitten,
Oder ihn überwältigt der sinnefesselnde Schwindel;
15 Hochab wär‘ er gestürzt und hätt‘ an zackigen Klippen
Oder am starrenden Eis die blutende Scheitel zerschmettert;
Und sie würden ihn nimmer erkennen, den wundenentstellten
Leichnam des Freundes, die Freunde, wofern sie am Ufer ihn fänden.
Aber es leitete mich die heilige Rechte der Vorsicht,
20 So wie ehmals am Gängelbande den sicheren Säugling
Führte die Unsichtbare den Jüngling über die Felsen! –
Siehe, da stand ich nun auf dem alternden Schutte des Eismeers,
Sah verschwunden um mich die alte Schöpfung, und neue
Welten entstanden vor mir! Ich dachte mich Zeinblas Bewohner!
25 Über mir flammte das Licht der erdbefruchteten Sonne,
Strömte der Sommerhimmel in seiner lieblichen Bläue;
Aber rings um mich her war Eis und der ewige Winter,
War ein feierlich Schweigen! – Nur sie, die wachsende Schneelast,
Stürzend ins ächzende Tal und der Donner vom berstenden Felsen
30 Der in der hallenden Tiefe versank, in der schäumenden Werkstatt,
Wo die Natur dem dürstenden Lande sein Wasser bereitet,
Sie nur brachen das heilige Schweigen und füllten des Hörers
Seele mit Staunen und beugten sein Knie der betenden Andacht!
Jetzo schwebten die Schimmer der mählich scheidenen Sonnenbrand
35 Über die Berge dahin gleich einer höhern Erscheinung,
Schnell und herrlich! Gerötet von ihrem brennenden Golde
Glänzten die silbernen Schläfe der himmelbenachbarten Jungfrau,
Prangte die Felsenstirne des stolzen Eigers und deine,
Riese Schreckhorn, dem heulend entstürzt der verwegene Waidmann;
40 Dessen Schultern allein die kühnste der Gemsen erklettert,
Dessen Scheitel allein der kühnste der Adler umflattert,
Welcher Bruder, Gotthard! dich grüßt und Schwester die Furka!
Scheid‘, o scheide noch nicht, du Strahlenkönigin, weile!
Spiegle noch länger dein Antlitz in diesen prächtigen Säulen,
45 Diesen Türmen von Eis! Es ist zu herrlich dies Schauspiel!
Schöner ist nicht im säuselnden Regen der Bogen des Friedens!
Scheinen nicht dort aus dem Eise Violen und Rosen zu sprossen?
Stehen sie nicht wie Pfeiler von Jaspis in Tempeln der Andacht,
Diese Säulen? Und scheint auf ihren türmenden Häuptern
50 Nicht der Glanz des Rubins mit dem blauen Saphire zu eifern?
Reiche mir, Führer! den Stab und waffne die Sohlen mit Zacken,
Denn erklimmen muss ich dort jenen prächtigen Eisberg!
Leite mich weiter hinauf und halte mich, dass ich nicht sinke!
Itzt, itzt bin ich nahe dem Gipfel! Hier steh‘ ich und atme
55 Reinere Luft und starre hinab in die offenen Klüfte,
Blicke staunend umher auf die Reihen der Eispyramiden,
Sehe dort fern am Felsen hinauf die einsamen Hütten
Glücklicher Sennen, und Ziegen, die fetten Weiden verfolgend.
Wie es unter mir donnert! Mir ist, als bebte der Eisberg,
60 Drohte zu bersten und mich zu begraben unter die Trümmer!
Ha! Wie dort der gewaltige Strom aus der Pforte des Eisturms,
Gleich als würd‘ er geschleudert, in schwärzlichen Wogen hervorschäumt
Und sich befruchtend ergeußt in den Schoß des blühenden Tales.
Nein! So mächtig ergriff es mich noch auf keiner der Höhen,
65 Keiner der Tiefen das hohe Gefühl der schaffenden Allmacht!
Zu der Sonne heb‘ ich mein Haupt und bete mit stummen
Blicken dich an und fühle mich dir, du Unendlicher, näher!
Welch ein neues Gefühl gesellt sich auf einmal zu deiner
Größe Bewunderung! Sie tönt in mein Ohr wie Harfengelispel,
70 Schwebet mir vor wie Gesichte des Himmels und säuselt wie reiner
Äther Ruh‘ in mein Herz – sie meiner Unsterblichkeit Ahndung!
Ja, ihr furchtbaren Felsen! Ihr mit den schneeichten Häuptern
Stolze Gebirg‘, an welchen mein Aug‘ itzt schwindelnd hinaufblickt,
Werdet verwittern, verstäuben nach vieler Jahrtausende Kreislauf –
75 Und kein Auge die Stätte der Hingeschwundnen mehr kennen!
Ja, ihr starrenden Türm‘, auf welchen bebend mein Fuß ruht,
Werdet versinken und bis zum letzten Tropfen versiegen!
Der euch entquoll, der schäumende Strom wird mit euch vertrocknen
Und kein Auge die Stätte des Hingeschwundnen mehr kennen!
80 Aber ich, mit der ewigen Flamme der Gottheit im Busen,
Diesem denkenden Geist, ich werde nimmer vergehen,
Werde leben und lesen in jenem heiligen Buche,
Welches die Wunder des Schöpfers mit flammenden Ziffern enträtselt,
Wie er euch wunderbar schuf und wunderbar wieder vertilgte.