Hexameter und Knittel

Hexameter und Knittelvers

Die im Hexameter zu beachtende Taktdauer ist also nicht bloß von der natürlichen Prosodie, sondern auch von anderen Umständen abhängig, welche die Metrik bisher sehr zum Schaden der Sache unberücksichtigt gelassen hat. Ich habe oben gezeigt, wie die lautliche Beschaffenheit gewisser Hebungen ihre Verkürzung gestattet, und wie satzuntertänige Wörter (bei Parallelismus usw.) mit dem Akzent ihre Quantität einbüßen können.

Aber noch ein weiteres kommt in Betracht: Das Tempo und die Art des Vortrags. Nicht jede Veränderung der Quantität, die bei raschem und lebhaftem Sprechen möglich ist, ist auch bei gleichmäßigem ruhigen Vortrag möglich; darum steht der Knittelvers trotz Viktor Hehn hier unter anderen Gesetzen als der Hexameter.

Im Hexameter wechseln einsilbige bloß mit zweisilbigen Senkungen ab; im Knittelvers kommen fehlende Senkungen neben einsilbigen, zweisilbigen, dreisilbigen, ja sogar viersilbigen vor. Die Dehnung oder Verkürzung der Silben ist darum eine viel größere im Knittelvers, sie nähert sich hier fast der Prosa; im Hexameter dagegen werden die Silben viel gleichmäßiger und ruhiger vorgetragen. Ein Vers wie dieser:

Aber in einem Gebüsch und in einer vertraulichen Laube

ist zwar kein guter Hexameter, aber immer noch ein Hexameter; in einem Knittelvers dagegen würde man Wörter wie einem und einer unbedenklich in die Senkung stoßen. Umgekehrt würde man ein zweisilbiges, satzuntertäniges Wort wie heiße im Hexameter nicht vertragen: heiße ma | gistr, heiße | Doktor wäre ein schlechter Eingang für einen Hexameter. Dagegen ist | Haùs seines | (Vaters) wohl ebenso gut im Hexameter wie im Knittelvers zu verwenden, weil das unbetonte seines die Länge des Diphthongen fast gänzlich eingebüßt hat.

Der Knittelvers gestattet, je nachdem er sich dem regelmäßigen Wechsel von Hebung und Senkung nähert oder von ihm entfernt, einen gleichmäßig ruhigen oder einen sehr lebhaften und raschen Vortrag; er kann sich jeder Stimmung und jedem Gegenstand anschmiegen. Der Hexameter steht dem regelmäßigen Wechsel von Hebung und Senkung immer näher, er hat einen bestimmter ausgesprochenen rhythmischen Charakter und verlangt bei aller Mannigfaltigkeit doch immer einen gleichmäßig ruhigen Vortragm der starke Verkürzungen unmöglich macht.

Die Aufgabe des Dichters ist es, dem Vortragenden entweder die Einhaltung der Taktdauer durch die natürliche Prosodie der Silben zu ermöglichen und ihm unmögliche Verkürzungen zu ersparen, oder ihm die Verkürzungder Silben durch den Sinn (Satzuntertänigkeit, rascheres Tempo) möglich zu machen. Das gehört ebenso gut zur Aufgabe des Dichter, wie es zu den Pfichten eines Textdichters gehört, einem Sänger in den höchsten Noten keinen dunklen und in den tiefsten Noten keinenzu hellen Ton unterzulegen. Das Gehör unserer besten Dichter ist dieser Aufgabe auch in den meisten Fällen gerecht geworden, obwohl, vielleicht auch gerade weil ihnen hier so wenig als beim Knittelvers bestimmte Prinzipien als bewusste Norm vor Augen standen.

Diesen Prinzipien wird die Metrik in Zukunft noch weiter auf die Spur zu kommen trachten müssen; denn es geht nicht an, die Aufgabe der Metrik von dem Sinn und von dem Vortrag zu trennen. Auf diese Weise kommt man dahin, den ganz nach dem Gehör gebauten Knittelvers, der die feinste metrische Kunst verrät, ganz aus der Betrachtung auszuschließen und die bewusste, aber metrisch fragliche Kunst vossischer Hexameter in den Vordergrunf zu schieben.

Wenn man einmal in metrischen Untersuchungen über den Hexameter und den Knittelvers auch den satzakzent in Betracht gezogen haben wird, damm wird man auch über die Möglichkeit oder Unmöglichkeit der Verkürzung satzuntertäniger Wörter und Silben ein Urteil haben und über Taktdauer und Quantität klarer sehen, die man bisher miteinander verwechselt hat.

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