Aus:
Johannes Minckwitz, Lehrbuch der rhythmischen Malerei der deutschen Sprache, Leipzig 1856
§ 189
Der anapästische Zweimesser (Dimeter) besteht aus vier Anapästen: zwei Anapästen nämlich werden zu einem Doppelfuße vereinigt, der sich sodann als Gegenbild wiederholt. In der Mitte verlangt er Zäsur und Pause, wie der trochäische und jambische Viermesser, und zwar aus dem nämlichen Grunde, dass die Melodie nicht gleichsam ruhelos töne, sondern den bestmöglichen Charakter gewinne.
Nehmen wir also den Doppelfuß: „Heil, König und Herr,“ so entspricht ihm als Gegensatz:
„der Troja bezwang“, dass mithin der ganze Zweimesser lautet:
Heil, König und Herr, der Troja bezwang.
Die Melodie dieses Verses, der durch Zäsur und Pause geregelt ist, tritt uns in zwei Hauptwogen entgegen, die trotz allem Wechsel der einzelnen Glieder, wovon weiter unten die Rede ist, einander gleich bleiben, für das Ohr daher ebenso charakteristisch tönend als leichtfasslich in ihrem Tone sind.
§ 190
Nach einem oder mehreren solchen Zweimessern tritt zunächst ein Einmesser auf, aus einem einfachen Doppelfuße bestehend, der eine besondere Reihe für sich bildet, also sein Gegenbild fallen lässt.
Wir können entweder auf den obenangeführten Dimeter: „Heil, König und Herr, der Troja bezwang“ fortfahren mit dem Einmesser: „O des Atreus Sohn“, oder wir schicken zwei Dimeter voraus:
Wie begrüß‘ ich dich heut? Wie verehr‘ ich dich recht,
Nicht über das Maß, noch neben das Ziel,
und lassen jetzt erst einen Einmesser folgen:
Dich erhebend im Preis.
Endlich dürfen auch drei oder mehrere Zweimesser vorausgehen, ehe ein solcher Einmesser gesetzt wird.
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Auf den Einmesser können alsdann neue Zweimesser folgen, die anapästischen Tonwogen im vorigen Doppelstoße weiter fortführend. Allein diese Melodie würde nicht ausreichen, um das mit so lebendigen Klängen erfüllte Ohr zu einem befriedigenden Abschlusse zu leiten, damit der Einförmigkeit eines rastlos fortrollenden Klangstromes ausgebeugt werde. Denn der Einmesser tritt zwar ein gewisses Halt gebietend dazwischen, aber gewährt trotz seiner Schroffheit keinen rechten, allgemeinen und sanften Schluss; es ist immer, als ob wir es mit einem endlos fortlaufenden Verse zu thun hätten, während wir doch einmal ausruhen möchten, um Atem zu schöpfen.
Das an Rhythmus gewöhnte Ohr verlangt nach einem andern Ruhepunkte als dem rein anapästischen Schlusse der Zeilen; es sehnt sich nach einem Versendpunkte, der die Tonreihe so bestimmt abgrenzt, wie wir den Hexameter, den Trimeter und andere Maße abgeschnitten und zum Stillstande gebracht sehen.
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Auf welcher Stelle ließe sich nun ein besseres, für das Ohr entscheidendes Merkmal, eine sozusagen wirkliche Grenze des Verses anbringen? Am Ende jedes einzelnen Zweimessers nirgends. Denn der Zweimesser ist dafür zu kurz, steht deshalb unwandelbar vor uns und gestattet weder die Wegnahme noch die Hinzufügung einer Silbe, damit dadurch ein entschiedener Schluss für das Ohr bewerkstelligt werde. Es blieb demnach nichts anderes übrig als der Ausweg, mehr als einen Zweimesser von vollständigen Anapästen vorüberbrausen zu lassen und erst an der letzten Zweimesserreihe einen festen und merkbaren Schluss zu setzen, was dadurch geschah, dass man die letzte Silbe des letzten Zweimessers abschnitt und dadurch der Tonwoge auf die nämliche Weise, wie bei dem Hexameter, eine unzweifelhafte Grenze steckte. Anstatt den letzten Zweimesser vollständig austönen zu lassen: „Bannsprechenden Steins er verurteilt ward,“
tilgte man den Klang der letzten Silbe (ward) und beschnitt den Vers: –
Bannsprechenden Steins er verurteilt.
Dabei geschah es aus dem gewöhnlichen Grunde, dass die Silbe, welche jetzt die letzte geworden war, wegen ihrer Gleichgültigkeit für das Ohr zur Zweizeitigkeit herabfiel, lang oder kurz sein konnte. Daher durfte man, um bei diesem Beispiele stehen zu bleiben, statt verurteilt die verkürzte Endung setzen:
Bannsprechenden Steins er verurtelt,
oder auch die lange „verurteilt“ beibehalten.
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Dieser beschnittene Schlusszweimesser indessen hat die doppelte Eigenheit, dass er erstens seine auf die Mitte fallende Cäsur samt der Pause aufgibt, und dass er zweitens seinen dritten Anapäst gewöhnlich als reinen Anapäst bewahrt.
Denn indem er Cäsur und Pause fallen ließ, gewann er einen ununterbrochen abrauschenden Tonfall, wie er eben für den zum Ende eilenden Schlussvers passte:
Die unendliche jauchzende Woge.
Die Cäsur indes ist keineswegs aus seiner Mitte verbannt, im Gegenteil darf sie jederzeit eintreten, aber nur ohne die Pause. Also weiblich:
Schlägt wirkliche Wunden dem Herzen,
oder männlich:
Miszgünstig verweilt in den Mauern.
Den zweiten Punkt anlangend, bewahrt diese Schlussreihe gerne auf der dritten oder auf der vorletzten Stelle einen reinen Anapästen aus dem Grunde, damit der Vers gefällig, leicht und ohne Stockung auslaufe, gleich dem Hexameter, welcher meist auf dem vorletzten Fuße einen Daktylus begehrt. Doch wird der spondeische Anapäst nicht abzuweisen sein, sobald durch seinen Eintritt der Tonfall ungezwungen bleibt oder die rhythmische Malerei seine Wahl und sein Erscheinen berechtigt.
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Ein so beschnittener Zweimesser schließt denn also die vorausgegangenen viergliederigen Reihen ab, deren jede mit einer langen Silbe endigen muss, da hier deswegen keine Zweizeitigkeit eintreten kann, weil das Ohr an dem Ende der einzelnen Reihe keinen wirklich festen Ruhepunkt (wie er bei dem Hexameter angebracht ist) findet.
Das Ganze eines solchen Zweimessergewoges wird daher eine sehr verschiedenartige Fassung aufweisen, bald etwa folgende:
Nun aber begrüsst lautjauchzend und froh
Des gelungenen Werks Urheber das Herz!
Im Verlaufe der Zeit siehst forschend du leicht,
Wer redlichgesinnt von den Bürgern und wer
Missgünstig verweilt in den Mauern.
Bald wiederum diese:
Wie begrüsz‘ ich dich heut? Wie verehr‘ ich dich recht,
Nicht über das Masz, noch neben das Ziel
Dich erhebend im Preis?
Manch‘ Sterblicher schätzt, voll frevelnden Sinns,
Weit höher den Schein, als die Wahrheit.
Oder diese:
Seemänner des Schiffs, das Aias führt,
Von dem alten Geschlecht des Erechtheusvolks,
Aufseufzen wir laut, die liebend besorgt
Um des Telamon Haus in der Ferne wir sind;
Denn Aias der Held, der gewaltige, liegt
Jetzt niedergebeugt
Von dem Sturm wildtobender Krankheit.
Und so lässt sich das Gebäude frei gestalten, ohne andere Vorschriften als die, welche im Obigen für den anapästischen Rhythmus überhaupt angegeben sind.
§ 195
Auf diese Weise aber wurde man absichtslos, durch die Natur der Sache, auf die Komposition von Strophen geführt, wie sie der lyrischen Dichtkunst eigen sind. Es entstanden teils kürzere, teils längere anapästische Systeme, welche, nach dem Belieben des Dichters, bald frei hinrauschten, so dass sie für sich ein Ganzes ausmachten, bald antistrophisch wie im Lied sich wiederholten und einander an Umfang nicht bloß ähnlich, sondern gleich waren.
Der oben beschriebene Schlusszweimesser brachte die Gestaltung derartiger Systeme mit sich. Denn konnte man auch, wie es in der That häufig geschehen ist, schon die zweite anapästische Reihe verkürzen und als einen Schlussvers hinstellen, welchem neue Zweimesser und Einmesser folgten, so fühlte man doch, dasz diese rasche Abgrenzung nicht schlechtweg nötig war: man häufte drei, vier, fünf und mehr Zeilen auf, ehe man den Schluss-Stein durch Abkürzung der letzten hinzufügte, die Stromwoge stillend. Die Erlaubnis und die Möglichkeit zur Verlängerung war vorhanden, der Wunsch nach reicherer Mannichfaltigkeit trat hinzu.
Wenn man dagegen einwenden wollte, dass die Griechen doch anapästische Zweimesser bildeten, welche eines halben Fußes beraubt wurden, und solche dreiundeinhalbfüßige Reihen ohne Bedenken hintereinander aufschichteten, so gilt dies lediglich von einer besonderen Gattung der anapästischen Versmusik, nicht aber von dem Grundmaß der Doppelmesser, wie sie am häufigsten gebraucht werden. Denn die um einen Ton verkürzten und nacheinander aufgehäuften Dimeter haben einen rein lyrischen Charakter und entsagen der Cäsur wie der Pause: sie sind von den eigentlichen Doppelmessern abgezogene Versmaße, welche sich durch Reichtum an Doppellängen auszeichnen und deshalb in der deutschen Sprache weder leicht geschaffen werden können, noch besonders angenehm klingen. Für den gewöhnlicheren Gebrauch wäre ihre Form überhaupt ungeeignet; Ihre Musik hat etwas Schwerfälliges und Gebrochenes.
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Schon aus obigen Beispielen erfahren wir, dass die Anapästen überall, selbst den dritten Fuß des verkürzten Schluszverses nicht ausgenommen, mit Spondeen vertauscht werden dürfen, die dann nicht als hexametrische, mit dem Daktylus verwandte Spondeen ausgesprochen werden, sondern anapästischen Ton erhalten, vermittelst des Iktus, der auf die zweite Länge des zweisilbigen Fußes zu stehen kommt. Durch diesen überall gestatteten Tausch gewinnt die anapästische Reihe einen ebenso reichen Wechsel als die spondeisch—daktylische Gliederung, die oben in ihren Vorzügen gewürdigt worden ist. Die Mannigfaltigkeit des Tones vermehren zugleich die vielfachen Einschnitte und Zäsuren neben der Hauptzäsur, die auf die Mitte fallend sowohl männlich als weiblich sein kann; über die jedoch zu bemerken ist, dass sie in männlicher Form für die deutsche Sprache den Vorzug verdient.
Die männliche Zäsur klingt für uns angenehmer, weil sie den anapästischen Strom fester und nachdrücklicher teilt als die weibliche, welche die Glieder untereinander etwas mehr verschlingt und den Ton verschleift:
Mit dem Armen zu klagen || das Jammergeschick,
wogegen die männliche Form entschiedener und deshalb wohlgefälliger lautet, wenn wir fortfahrend sagen:
Zeigt Jeglicher Lust; || kein Stachel indes
Und da früher schon angeführt worden ist, dass die Hauptzäsur die Aufgabe hat, den anapästischen Doppelmesser scharfen Schnittes in zwei gleiche Tonwogen zu trennen, und da die Pause durch den weiblichen Einschnitt fast zur Hälfte aufgehoben wird, so leuchtet ein, dass es für unser nordisches Ohr vorteilhafter ist, der männlichen Zäsur den Vorzug zu geben, sobald nicht andere Gründe zum Gegenteil rathen, die widerstrebende Form der Wörter, die rhythmische Malerei und Ähnliches.
Die Griechen haben außerdem noch dem Daktylus, aber unter anapästischer Betonung desselben, das Bürgerrecht in den anapästischen Reihen eingeräumt; der Deutsche kann dies nicht wohl nachahmen, weil es meist Missklang verursacht, wenn wir einen Daktylus anapästisch aussprechen wollen, abgesehen davon, dass dieser Fuß, der umgekehrte, gerade wie es in dem Jambenschritte der Fall ist, ein gewisses Stocken der rhythmischen Bewegung in unserem etwas schwerfälligen Idiome hervorbringen würde. Indessen mag uns auch durch diesen Verlust ein Schade für den Wechsel der Töne erwachsen, wir vermissen den anapästischen Daktylus leicht: die Mannigfaltigkeit der Rhythmen, welche an allen Stellen ein reizendes Spiel mit Doppellängen und reinen Anapästen vorführen, bleibt groß genug, um uns für die Schönheit und Vollendung dieses Maßes zu gewinnen.
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Ein Umstand aber könnte die Bildung anapästischer Verse für uns Deutsche sehr schwierig erscheinen lassen und uns von ihrer Anwendung abmahnen. Die deutsche Sprache besitzt nämlich sehr wenige rein-anapästische Wortformen, und die meisten davon sind überdies aus fremden Sprachen entlehnt oder halbe Fremdwörter. Hierin könnten wir denn ein Zeichen vermuten, dass der Genius unserer Sprache dieser Versform ganz und gar widerstrebe. Allein für iese Ansieht haben wir keinen genügenden Grund; es bleiben immer noch Vorteile genug übrig, die dem Bau der anapästischen Reihen zustatten kommen, die Tonvorschläge, die Doppellängen und die Freiheit in der gesammten Komposition dieser Versgebäude.
Es lässt sich allerdings nicht läugnen, dass die Griechen in diesem Stücke mehr begünstigt waren; ihnen fehlte es nicht an reinen anapästischen Wörtern, welche selbst für den Ton der daktylisch-spondeischen Gliederung durch ihren Zuschnitt Nutzen brachten. Obendrein könnte uns auch dieses noch bedenklich machen, dass sogar die geringe Anzahl der deutschen Anapästenformen, die dem metrischen Dichter sich darbietet, einer etwas schwankenden oder zweifelhaften Messung unterworfen ist. Denn unsere anapästischen Wortstücke lassen sich in den jambischen und trochäischen Rhythmen durchweg und meistenteils ohne Anstoß als Kretiker messen, indem die erste Silbe in diesem minder erregten Strome der Rhythmen zur Länge übergeht oder wenigstens die Stelle der Länge vertritt.
Doch wie sehr wir auch hierin den Griechen gegenüber im Nachteile sind, den Ausfall der rein—anapästischen Wortformen decken einigermaßen unsere zahlreichen einsilbigen Wörter, besonders die Artikel, deren wir uns nicht so kühn wie die Hellenen entschlagen können. Durch Vorsetzung eines solchen Wörtchens gestaltet sich leicht der anapästische Versfuß, er sei ein spondeischer oder ein rein-anapästischer; wie wir denn auch gesehen haben, dass durch einen Tonvorschlag aus Trochäen sofort Jamben entstehen. Rechnen wir zweitens die Freiheit hinzu, womit die spondeischen Anapästen an allen Stellen, ganz wie die daktylischen Spondeen in dem Hexameter, willkommen sind, so besitzen wir schon viele Mittel und Wege, wodurch der Bau dieser Reihen in unserer Sprache erleichtert wird. Drittens müssen wir als einen nicht zu verachtenden Vorteil die Vergünstigung in Anschlag bringen, dass es uns nach dem Obengesagten erlaubt ist, eine ganze Menge solcher anapästischer Reihen hintereinander aufzustellen, ohne dass wir an ein bestimmtes Schlussmerkmal der einzelnen Zeilen gebunden sind, dessen umwandelbare Wiederkehr dem Versifikator eine oft schwer zu bezwingende Fessel anlegt; wie wir denn vornehmlich Hexameter und Trimeter einer solchen steten Einschränkung unterworfen sehen. Diese uns freistehende Entfernung des Abschlusses erweitert das Maß und durch die Erweiterung des Maßes verringert sich die Schwierigkeit der Komposition um ein Bedeutendes: der Gedanke kann sich ungehinderter entfalten und bei seiner Einschmiegung in das Metrum vielfach gedreht und gewendet werden, bis er zur rechten Gestalt ausgedrechselt ist.
Die erwähnten Erleichterungen werden dem rhythmischen Baumeister so zu Statten kommen, dass ihm die Anapästen nicht mehr Mühe bereiten als der Hexameter und Trimeter. Ja, sie dürften ihm durchschnittlich sogar leichter fallen als der letztgenannte Vers; denn der jambische Sechsmesser ist an den gleichmäßigen Wechsel von kurzen und langen Gliedern geheftet, während der anapästische Formschneider an allen Stellen der Zeile mit Doppellängen und reinen Anapästen frei schaltet und waltet; ein Vorzug der Bewegung, den auch Platen so hoch ansetzte, dass er die Komposition der Trimeter im Deutschen für schwieriger erklärte als die der Anapästen. Dies ist zwar nach meiner Erfahrung nicht ganz richtig, aber ich finde auch, dass die Anapästen wenigstens leichter zu sein scheinen, da sie in manchen Fällen sich leichter lesen lassen oder vielmehr durch ihren flüchtigen Tanz bestechender wirken; und selbst dieser Schein ist nicht ohne Bedeutung, weil er ein Zeugnis dafür ablegt, dass durch des Dichters Kunst die Schwierigkeiten des anapästischen Gefüges siegreich überwunden sind. Die Kunst erscheint sodann, in allen Fällen, wo sie glücklich triumphirt hat, als Natur; das Kunstwerk gefällt und empfiehlt sich durch Einfachheit und Leichtigkeit, welche’der Leser zu seiner Befriedigung bemerkt, während ihm die etwaigen Schwierigkeiten der Komposition verborgen werden.
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Dass die Anapästen überhaupt dem Genius unserer Sprache nichts Fremdartiges aufbürden und ihm keinerlei Gewalt antun, bezeugt selbst unsere Prosa sowie die mittelhochdeutsche Poesie.
Wir begegnen häufig in der ungebundenen Darstellung einer anapästischen Bewegung, welche sich über einen Doppelfuß hinauserstreckt und einen vollständigen Zweimesser, wenn auch meist mit Vernachlässigung der Hauptzäsur, erreicht:
Wir treten hinaus in die fremde Welt,
ein Beispiel, worin die zweite Hälfte zwar lückenhaft geblieben ist, aber der anapästische Charakter klar genug sich ausspricht. Ja, wir komponieren sogar in der Prosa Wortfüße, die einen ganzen Doppelfuß umfassen, wie z. B. „Baumwollengespinnst“, „Meteorsteinfall“, „Buchdruckergeschäft“ und Ähnliches. Zu anapästischer Bewegung erhob sich ferner auch die in der Hohenstaufenzeit herrschende Poesie, welche die Längen und Kürzen nach den Akzenten bestimmte und regelte: die Hebungen waren festgesetzt, die Zahl der Senkungen aber meist freigestellt, so dass häufig auf eine Hebung zwei Senkungen kamen, wodurch eine dem Daktylus oder Anapäst ähnliche Lautfolge entstand. Um so eher dürfen wir es aber heutzutag wagen, mit den Griechen in der Schönheit dieses Verses zu wetteifern, als im Neuhochdeutschen gegenwärtig die Längen und Kürzen auf das Sorgfältigste ausgemessen und festgestellt sind. Das Rüstzeug zum Kampfe mit den Griechen ist jetzt feiner und schärfer zugeschnitten, als es zur Zeit des Mittelalters war.
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Die Anapästen werden zwar niemals ein gleich weites Feld beherrschen wie die Sechsmesser, aber im Drama zukünftig einen vorzüglichen Platz behaupten und allemal an der rechten Stelle sein, wo eine Bewegung eintritt, die lebhafter, stürmischer und feuriger ist, als dass sie durch jambische und trochäische Reihen bestritten werden könnte. Schon oben ward gesagt, dass die Anapästen den Übergang von der allgemeinen rhythmischen Darstellung zur eigentlichen Lyrik bilden; mithin können sie nicht den Hauptvers im Drama vertreten, wo der Gesprächston vorherrscht. Aber in der Klangwelt des Dramas werden sie reichliche, durch andere Mittel nicht zu ersetzende Bausteine liefern, charaktervoll wie sie sind; namentlich werden sie Grundsteine für eine Bewegung sein, welche hier die größte Heftigkeit, dort die größte Feierlichkeit hat, bald das ruhigere Gespräch abbrechend, bald die in Gesang übergehende Stimmung vorbereitend.
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Die anapästischen Rhythmen sind, ihrem besondern Charakter nach, mit Heftigkeit vorwärts strebend, dass wir sie ganz bezeichnend Marschrhythmen nennen dürfen. Sie schreiten, durch Doppellängen mehr verstärkt als besänftigt, da sie die schweren Silben leicht mit sich fortreißen, in einzelnen Absätzen sturmschrittartig dahin, unaufhaltsamen Meerwogen ähnlich, die bei allem Wechsel regelmäßig an den Strand laufen und sich brechen.
Ihre Strömung ist voll, aber zugleich charakteristisch durch eine wunderbare Leichtigkeit, welche die Macht der Fülle und die Gewalt des Fortschreitens gewissermaßen verbirgt; es scheint, als ob die Bewegung ohne tieferen Grund vor sich ginge und auf der Oberfläche sie hielte, kurz, als ob sie kaum die Hälfte des Nachdrucks besäße, die sie eigentlich hat. So täuscht sich das Auge des Zuschauers bei den Meereswellen; diese scheinen demjenigen, der ihre Gewalt nicht kennt und erprobt hat, spielend an das Ufer zu treiben.
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Doch schreiten die Anapästen nicht bloß in ungestümem Laufe, heftig und unaufhaltsam hin, sondern sie bewegen sich auch, nach und nach steigend, auf einer hochgehenden Bahn fort, ohne die Flügel wieder sinken zu lassen. Sie dienen daher vorzugsweise dem Ausdrucke des Erhabenen und sind deshalb nicht allein dem tragischen Tone überaus angemessen, sondern verleihen selbst dem Scherze des Lustspiels einen feierlichen, eigentümlich ernsten und würdigen Anstrich. Zugleich schatten sich auch in diesem Maße die Empfindungen auf besondere Weise ab, hier durch rascheren, dort durch gewichtvolleren Strom der Rhythmen, wie durch eine unendlich mannigfaltige Strahlenbrechung.
Wir wollen dies nach der Seite des Scherzes wie des Ernstes hin betrachten. Platen sagt von dem Haupthelden des romantischen Ödipus:
Er bezwingt die Natur, fügt Steine dem Bau,
Lehrt Bären den Tanz! Im Erschaffenen rings
Kommt nichts ihm gleich; es besiegt sein Lied
Der Zikade Gezirp und den Unkengesang
Und des Kuckucks reiche Gedanken.
Hier gewahren wir, wie die Scherze mit solcher Zuversicht und solchem Ernst vorgetraen sind, dass die Satire in den Hintergrund zu treten und die Schilderung auf vollkommener Wahrheit zu beruhen scheint; ein Schein, auf welchen der würdevolle Ton der Anapästen entscheidenden Einfluss äußert. Die nämliche Hoheit atmet der Scherz des Aristophanes, wenn er unter anderm in dem „Vogelstaate“ die Nachtigall durch den Wiedehopf, ihren Gemahl, mit folgenden Worten wecken lässt:
Auf, Weibchen, verscheuch von der Wimper den Schlaf
Und ergieße den Born des geweihten Gesangs,
Den trauernd ergeußt dein göttlicher Mund,
Wenn den Itys du, mein unseliges Kind
Und das deine, beklagst mit dem tauigen Lied
Blondwölbiger Brust!
Von dem Ahornbusch steigt silbern empor
Der melodische Hall zu dem Throne des Zeus,
Wo goldenumlockt steht lauschend Apoll:
Und entzückt durch dein sehnsüchtiges Ach,
Greift jauchzend der Gott in die helfene Lei’r,
Der Olympier Chor hinreißend zu Tanz:
Von der Ewigen Mund inbrünstig erschallt
Zu der Reigenmusik
Harmonische selige Klage.
In dieser Darstellung tritt die lebensvollste Schilderung des Nachtigallengesanges vor uns. Der Hain wird von melodischen hellen Tönen erfüllt, sodann wogt der Gesang in einzelnen lieblichen Schwingungen über die Kronen der Bäume hinausschallend nach dem blauen Äther empor. Deutlich entfalten dies die Strömungen der Anapästen: in den ersten sechs Reihen vernehmen wir die klangreiche Melodie, welche durch die Stille des Gebüsches, den ganzen Bezirk gleichsam ausfüllend, sich erhebt. Allmählich aber schlägt die Nachtigall stärker; die Musik ihrer Stimme versammelt sich nicht mehr los auf einen Punkt, sondern wallt über das Gebüsch hinaus und ergießt sich in drei mächtigen Strömungen, von welchen jede durch drei anapästische Reihen getragen wird, bis sie mit der schließenden letzten Zeile sanft verschwebt und in den Lüften ggrrinnt als eine „harmonische selige Klage“.
Worauf dann der Hörende seine Bewunderung mit den Worten ausdrücken durfte:
O himmlischer Zeus, wie wonnig singt das Vögelein,
Wie füllt ein honigsüßer Laut den ganzen Hag.
Schon aus solchen Beispielen des Lustspiels lässt sich ein Schluss ziehen, wie der Ernst der Tragödie durch die Anapästenform sich ausnehme. Aeschylus legt dem Chorführer in den „Persern“ folgende Schmerzworte in den Mund:
Zeus, Herrscher, so hast du zertrümmert das Heer,
Das Persien, stolz und gewaltig an Volk,
Aussandt‘ in den Streit,
Und in Trauer gehüllt steht Susis‘ Stadt
Und Ekbatana, nächtig umschattet!
Und den Schleier vom Haupt mit der glänzenden Hand
Abreißend benetzt manch Weib stromweis
Mit der Tränen Erguss,
Von der Kunde verwundet, den Busen!
Von dem tragischen Ernste und von der Erhabenheit des Schmerzes absehend, der uns aus der gesammten Stelle entgegentritt, wollen wir nur auf die Malerei der letzten beiden Zeilen aufmerksam machen, in welchen der rhythmische Tonfall durch den dunkeln Laut der Vokale unterstützt wird, um die tiefste Trauer und Melancholie zu bezeichnen. Es benetzt nämlich „manch Weib stromweis mit der Tränen Erguss, von der Kunde verwundet, den Busen“. Die Worte versagen gleichsam hier dem Klagenden, er verstummt in seinem Schmerzgefühle und neigt das Haupt mit diesen Lauten, welche seiner Empfindung selbst im äußerlichen Tone entsprechend klingen.
§ 202
Die Zinne, auf welcher die Anapästen zu schweben scheinen, übertrifft bei weitem jene von den trochäischen Reihen eingenommene Höhe; selbst der Hexameter steht, wenn auch nicht an Majestät des Tones im Allgemeinen, doch an Dauer des Fluges, welcher ihn über die Höhen führt, gegen den anapästischen Rhythmenzug zurück. Dies rührt daher, dass die anapästischen Reihen nicht mit jedem einzelnen Zweimesser abschließen, sondern zu mehreren Gefügen verbunden werden und eine ungleich längere Bahn verfolgen, als der daktylischspondeische Sechsmesser.
Der äußere Umfang kommt den Anapästenreihen zustatten, er hilft die Gedanken ausbreiten und weiter fortführen, wenn sie den Gipfel erstiegen haben, und so entsteht denn auch daraus eine ausgedehntere majestätische Bewegung, indem der Hörende gleichsam mehr Muße hat, um auf den Höhen der Rhythmen sich einzuleben und seinen Geist an den reinen Strahlen, welche auf ihn fallen, zu sonnen. Ein System von Platen wird dies veranschaulichen:
Auf, auf, o Genossen! Umtanzt ihn rings,
Und die Hymne beginnt, die gewaltige, die
Wie ein Bote des Glücks, wie ein Aar, der keck
Von dem Idagebürg Ganymeden geraubt,
Die Gestirne vorbei, sich siegstolz wiegt
Auf silberner Schwinge des Wohlklangs.
Zuerst beginnen die beiden ersten Zeilen ihren Sturmlauf, wir fühlen uns aus dem Bereich der Alltäglichkeit emporgehoben wie auf starken Flügeln. Nachdem aber mit der dritten Reihe die eigentliche Wolkenhöhe errungen ist, nach welcher die Rhythmen aufzustreben schienen, bewegen wir uns, natürlich unterstützt durch den Sinn der Gedanken, auf der Zinne gemächlich weiter und verweilen geraume Zeit oben, so dass wir die Tiefen der Erde vergessen haben, wenn wir ans Ende des Systems und zum letzten Hauche der Melodie gelangen.
§ 203
Diese Kraft, Würde und Hoheit in gleicher Stärke auszudrücken, wäre durch den Hexameter unmöglich, weil dieser einem Geflechte solcher Reihen gegenüber gewissermaßen zu kurzatmig ist. Auch der anapästische Tetrameter wird den Hexameter in diesen Eigenschaften überbieten, schon deswegen, weil er ebenfalls länger ist, obgleich bloß aus zwei der oben geschilderten Reihen zusammen esetzt.
Um nämlich diesen stromreichen Vers zu bilden, verbinden wir zu einer fortlaufenden Reihe zwei vollständige Doppelfüße und einen unvollständigen Zweimesser, einen, welchem der halbe Fuß des letzten Anapästen abgeschnitten worden ist, mit kurzem Worte, einen Schlusszweimesser, wie wir ihn oben beschrieben haben. So tritt der Tetrameter oder Viermesser als die Verdoppelung des Zweimessers auf, unter der Einschränkung, dass die fertige Zeile stets ein bestimmtes Schlussmerkmal hat: Hauptzäsuren und Pausen bleiben unverändert, das heißt, sie fallen auf die nämlichen Stellen, wo sie stehen würden, wenn die beiden Hauptstücke, der vollständige Zweimesser und der Schlusszweimesser, getrennt geblieben wären.
Daher die Hauptzäsur der verlängerten Reihe samt der Hauptpause stets auf dem Punkte stattfinden muss, wo der Schlusszweimesser an den vollständigen Zweimesser sich anreiht, mithin auf dem Mittelpunkte der gesammten Zeile:
Seit ältester Zeit | hat hier es getönt und so oft, || im erneuenden Umschwung,
In verjüngter Gestalt | aufstrebte die Welt || klang auch ein germanisches Lied nach.
Das ist nicht ein Zufall, sondern die Musik der an uns vorbeirauschenden Verswelle bringt es mit sich, dass aus gleichen Gründen wie bei den andern Viermessern der Stillstand auf der Mitte eintrete. Um so weniger aber wird an dieser Stelle eine Verschleifung der Anapästen, wäre es auch nur durch die weibliche Zäsur, angebracht sein. Denn der anapästische Charakter des Verses verlöre sich bei der Verwischung oder Umgehung dieses Ruhezeichens in einen zuletzt vollkommen daktylischen, wie das Ohr sofort heraushört, wenn wir statt des Obigen schreiben wollten:
Seit ältester Zeit | hat hier es getönet, || und oft in erneuerndem Umschwung,
Man vergisst den anapästischen Schritt, der kaum bis zum „tönet“ hörbar bleibt, mit „tönet“ aber in den Ton des Hexameters umzuschlagen anfängt.
§ 204
Vergleichen wir also den Hexameter und den anapästischen Tetrameter, so werden wir finden, dass der Hexameter in dem umfangreicheren Körper dieses anapästischen Viermessers nicht bloß aufgeht, sondern gleichsam wie eine kleinere Welle von der größeren verschlungen wird.
Der gesamte Charakter eines Verses gestaltet sich durch seine nach richtigem Gesetz erfolgte Erweiterung um. Wie viel selbst ein Paar Silben, um welche eine metrische Reihe sich erweitert, zur Entfaltung und Malerei der Gedanken wie zur Steigerung der rhythmischen Schönheit überhaupt beitragen, ist schon früher gezeigt worden, und haben wir namentlich an dem jambischen Sechsmesser empfunden, der die fünffüßige Jambenreihe bedeutend überragt.
Der Zug einer so langen anapästischen Zeile ist ungleich gewaltiger als der Gang des daktylisch-spondeischen Hexameters. Diesen möchte ich mit einer starken Flusswelle vergleichen, unsern Viermesser mit einer hohen und breiten atlantischen Woge, welche die Größe des Weltmeers bekundet. Weniger möchte jedoch diese Übermacht aus dem schnellen Vorwärtseilen der anapästischen Füße entspringen, als auf dem äußerlichen Umfange beruhen. Denn während der Hexameter auf zwei Hauptströmungen beschränkt ist, rauscht der Tetrameter in drei Windungen an uns vorüber, welche überdies durch zwei merkbare Pausen auseinander gehalten werden, wodurch der Hall der Melodie sich verlängert. Dazu kommt alsdann noch, dass der Reichtum und Wechsel der Wortformen und Zäsuren durch die Ausdehnung der Reihe ebenfalls größer wird.
§ 205
Der Grundzug des Erhabenen, den wir an dem Zweimesser gefunden haben, verbleibt auch dem Viermesser. Obgleich der Strom in ein engeres und regelmäßigeres Bett eingedämmt ist, verändert er doch kaum die eigentümliche Farbe, womit die Anapästen das Große und Gewaltige schmücken; es herrscht nur der Unterschied, dass er die Seele nicht so lange gleichmäßig auf der Höhe der Gedanken wiegt wie die mit Hinausschiebung der Schlusszeile ungestört fortlaufenden, zu einer Art Strophe zusammengeschichteten Zweimesser, sondern dass er öfter neue Anläufe nimmt und von einer Höhe zur andern überfliegt.
Überall drängt sich dieser Charakter siegreich durch und augenblicklich empfinden wir die Feierlichkeit seiner Flügelschläge,welche uns aus den gewöhnlichen Kreisen der Empfindung nach dem Äther emportragen. Wie Glockenschläge überraschen uns die Reihen, wenn Aristophanes plötzlich, sei es nach den Takten von nicht eben sehr lebendigen Rhythmen, sei es selbst nach dem Verrauschen einer gesangreichen Melodie, abbrechend anhebt:
Schweigt andachtsvoll! Und geleitet die Braut in dem Hause mit brennenden Fackeln
Zu der Pforte heraus, und das Volk ringsher mag jauchzen in fröhlichen Reizen.
Es ist, als ob uns plötzlich das Weltmeer rauschend und brausend entgegenwoge, wenn wir ein Paar solcher Zeilen vernommen haben.
§ 206
Obgleich es aber unter den einfach wiederkehrenden rhythmischen Zeilen keine einzige gibt, welche eine großartigere Melodie entfaltete und die Erhabenheit so mächtig und in so eigentümlicher Weise ausdrückte, wie dieser Viermesser, so erscheint er doch für das Reich der Tragödie minder geeignet, und wir werden ihn dem höheren Lustspiel zuweisen müssen. Dass ihn die Griechen nur für das letztere verwendet zu haben scheinen, daran brauchten wir uns freilich nicht zu kehren, wenn es nicht sonst in der Natur seines Wesens einen Grund gäbe, welcher seinen Gebrauch für die Tragödie, wenn auch nicht geradezu verböte, doch beschränkte. Denn wäre er auch seither bloß für den Scherz der Huldgöttin benutzt worden, so stände uns doch künftighin die Erweiterung seines Feldes frei; wir könnten unbedenklich seine Rhythmen für die tragische und für die komische Gedankenflut ebenso gut verwenden, wie die Zweimesser, die von den Hellenen ohne Unterschied für beides gebraucht wurden. Aber es gibt einen gewichtigen Grund, welcher ihn fast ausschließlich für das Lustspiel bestimmt. Er trägt nämlich einen zu lebendigen Charakter an sich, sein Strom rauscht zu heftig, unruhig und gewaltsam, als dass er seinen Donner mit der durchaus ernsten Stimme der tragischen Muse, mit ihrer gesetzten Sprache und ihrer ewig ruhigen Würde vergesellschaften ließe, ohne den sonnenhellen Spiegel häufig zu trüben, welchen sie der menschlichen Leidenschaft vorhält, um das Gemüt zu besänftigen und von der übersprungenen Schranke auf das Maß der Wahrheit zurückzuführen.
Im Lustspiel herrscht ein ganz anderes Verhältnis. Die komische Muse darf alle Töne anschlagen, die tiefsten wie die höchsten, und so wird sie sich auch den gewaltsameren Strömungen überlassen dürfen, welche der anapästische Viermesser, bald unter gehobenen oder anmutigen Scherzen, bald unter begeisternden Warnungen, wie ein Gewittersturm an unserer Seele vorüberführt. Sie bekümmert sich so wenig um den Wechsel der Empfindung, dass sie ihn vielmehr sucht.