Versus spondiacus

Der fünfte Fuß des Hexameters ist fast immer dreisilbig. Nur sehr selten, im klassischen deutschen Hexameter etwa in 2% aller Verse, wird er gegen einen zweisilbigen Fuß ausgetauscht. Der entstandene Vers, bei dem dann der vierte Fuß dreisilbig sein muss, heißt nach seinem antiken Vorbild versus spondiacus; manche Metriker bevorzugten allerdings die Bezeichnung spondeischer Hexameter. Das Silbenbild der Grundform, zäsurfrei:

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Einige Beispiele:

Dort empfangen sie mich. O Stimme der Stadt, der Mutter! (Hölderlin)
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Auf dein seidenes Blatt ein zierliches Liebesbriefchen (Rückert)
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Aber es kam noch hinzu: „Ein verteufelter Kerl, der Fleps, das!“ (Wildgans)
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Äußerst selten folgen mehrere spondeische Hexameter aufeinander:

(Und schon wallt‘, ein lebendiges Meer, rotglühend in ganzer
Länge, hinunter der See, mit unendlichen Wellen erzitternd,)
Bis wo die feurige Flut er gestadlos breit ausgießet
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In das Gewoge des tief entzündeten Abendhimmels. (Mörike)
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Über diese beiden Verse (im ersten ist auch der vierte Fuß zweisilbig!) schreibt Ulrich Hötzer 1964 in seinem Aufsatz „Grata negligentia“ – „Ungestiefelte Hexameter“? (Der Deutschunterricht 16):

Das Fehlen der daktylischen Klausel mit ihrer abschließenden Wirkung „entgrenzt“ diese beiden Verse, und so zeigen sie in ihrer „gestadlosen“ Form den Vorgang: Einströmen ins Unendliche.

Das deutet an, dass der zweisilbige fünfte Fuß an inhaltliche Bedingungen geknüpft ist, was auch alle Metriken in der einen oder anderen Weise feststellen. Heinrich Viehoff zum Beispiel bekräftigt die Notwendigkeit des dreisilbigen fünften Fußes, um dann fortzufahren:

Wo von der Regel abgegangen wird, muss im darzustellenden Gegenstand ein Grund dazu liegen; so ist der Spondeus im vorletzten Fuße – wodurch der versus spondiacus entsteht – da an seiner Stelle, wo etwas Ernstes, Feierliches, Würdevolles, Großes, Massenhaftes, Schwerfälliges darzustellen ist (Vorschule der Dichtkunst, 1860).

Oder, mit Beispiel, Johann Josef Dillschneider:

Tritt ausnahmsweise im fünften Maße die Doppellänge ein, so geschieht dies gewöhnlich nur aus malerischen Zwecken, wie im Verse

Hier nun müde des schon zweitägigen Gangs, bergan stets (Baggesen)
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wo das mühsame Bergansteigen dargestellt wird (Deutsche Verslehre, 1839).

Was hier ausschließlich über den Spondeus gesagt wird, lässt sich sicherlich – mit der entsprechenden Vorsicht – auf den zweisilbigen Fuß an sich verallgemeinern.