Jules Chevalier Potier

(1) Stumme Liebe
Vom Gram, der mir im Herzen nagt,
Muss leider meine Lippe schweigen,
Und nur die bleichen Wangen zeugen
Vom Gram, der mir im Herzen nagt;
Dieweil es kaum mein Auge wagt,
Die bitt’re Träne ihr zu zeigen,
So muss auch meine Lippe schweigen
Vom Gram, der mir im Herzen nagt.

(2) Mädchen-Lippen
Ein Becher sind der Mädchen Lippen,
Woraus man Glück und Unheil trinkt,
D’rum nicht aus Allen sucht zu nippen!
Ein Becher sind der Mädchen Lippen,
Der oft den Tod der Ruhe bringt;
Wie Schiffer die Korallen-Klippen,
So meidet, wenn er lockend winkt,
Den Becher dieser Mädchen-Lippen,
Der oft den Tod der Ruhe bringt!

(3) Das Menschenherz
Auch das Menschenherz hat Saiten,
Lieb‘ ist dessen Harfnerin,
Und wie Abendwinde gleiten
Über Menschenherzens Saiten
Ihre Rosenfinger hin! –
Doch nur bei noch unentweihten
Locket Sphären-Harmonien
Aus des Menschenherzens Saiten
Liebe, dessen Harfnerin!

(4) Des Menschen Herz
Es ist das Herz ein Dom bei Nachteiliger
In dem die Lieb‘ als Ampel glüht,
Schon öfter hab‘ ich mir gedacht,
Es ist das Herz ein Dom der Nacht,
Woraus entsetzt der Beter flieht,
Ward keine Leuchte angefacht.
Doch ist mein Herz ein Dom der Nacht,
Worin die Lieb‘ als Ampfel glüht!

Das Menschenherz

(5) Herzen find demant’ne Becher,
Welche Lieb‘ mit Nektar füllt,
Himmelswonne wird dem Zecher,
Dessen Herz als Demantbecher
Jenen Feuertrank umhüllt! –
Trinkt! so lang ein Tropfen quillt
Aus des Herzens Demantbecher,
Welchen Lieb‘ mit Nektar füllt!

(6) Und es ist ein Buch der Lieder
Unser Herz im Busensschrein,
Amor mit dem Goldgefieder
Ist von diesem Buch der Lieder
Der Verfasser ganz allein!
Wollt ihr also singen, Brüder!
Blickt in euer Herz hinein;
Denn es ist ein Buch der Lieder
Unser Herz im Busenschrein!

(7) Das Menschenherz
Meines ward zum Leichensteine
Meiner Lieb‘ auf’s Grab gesetzt;
Seit du mordetest, die Reine,
Ward mein Herz zum Leichensteine
Dem dein Name eingeätzt! …
Doch von Blumen ward nicht eine
Zu des Herzens Leichensteine
Meiner Lieb‘ aufs Grab gelegt!

(8) Die dreifache Gabe
Einst lehrte mich ein schöner Mai:
Nur Lieb‘ sei wahre Poesie;
Allein die Liebe sprach: es sei
Ein schöner Mai die Poesie!
Nein, nein! – rief Poesie dabei –
Die Liebe ist der schöne Mai!
Da pries ich Gott, dass er verlieh:
Mir Liebe, Mai und Poesie!

(9) Der Zeitenstrom
Es rauscht dahin der Strom der Zeit
Und keine Macht hält ihn zurück,
Und was euch jüngst entzückt, erfreut,
Es rauscht dahin im Strom der Zeit!
Genießt darum, was das Geschick
Euch nur an Wonnestunden beut;
Denn keine Macht hält es zurück,
Es rauscht dahin im Strom der Zeit!

(10) Als ich mit meinem Lieb‘ gebrochen,
Brach ich zugleich mein Herz entzwei!
Wie bange fühlt ich da es pochen,
Als ich mit meiner Lieb‘ gebrochen! …
Die Biene gleich, die selbst dabei
Muss sterben, wenn sie uns gestochen,
So brach, als ich mit ihr gebrochen,
Zugleich mein armes Herz entzwei!

(11) Die Blume meines Lebens
Sie welkt dahin, die Blume meines Lebens,
Eh‘ noch die Blüte aus der Knospe brach,
Ach! jede Sorg‘ und Wartung ist vergebens –
Sie welkt dahin, die Blume meines Lebens,
Und mählig folgt der morsche Stamm ihr nach.
Da ihr ein heit’rer Wonnemond gebrach,
Sol welkt dahin die Blume meines Lebens,
Eh‘ noch die Blüte aus der Knospe brach!