Die Silben
Über die Grundbausteine des Hexameters
Welche der Silben, die die deutsche Sprache bereitstellt, sind im Hexameter fähig, eine Hebungsstelle zu besetzen, und welche Silben sind fähig, eine Senkungsstelle zu besetzen? Diese Frage ist untrennbar verbunden mit der Frage, wie das Ordnungsprinzip des antiken Verses, das die Länge beziehungsweise Kürze der Silben, also ihren Zeitwert in Betracht zieht, im Deutschen wiedergegeben werden kann und soll, dessen Dichtung die Silben vor allem nach dem Nachdruck ihrer Aussprache, also der Tonstärke unterteilt.
Auf diese zweite Frage haben sowohl die Theoretiker als auch die Praktiker des deutschen Hexameters ganz unterschiedliche Antworten gegeben, die sich teilweise vollkommen widersprechen. Strenggenommen gibt es also den einen deutschen Hexameter gar nicht, und es müssten verschiedene Arten von deutschen Hexametern vorgestellt werden je nach der Antwort, die der jeweilige Verfasser oder Metriker für richtig befunden hat. Da das im Rahmen dieses an praktischen Bedürfnissen ausgerichteten Lexikons nicht sinnvoll erscheint, versuche ich, eine Silben-Bestimmung zu geben, die beim Schreiben von Hexametern zu guten Ergebnissen führt und darüber hinaus auf die allermeisten schon geschriebenen Hexameter anwendbar ist. Man behalte aber immer im Hinterkopf, dass diese Bestimmung ein Kompromiss zwischen eigentlich unvereinbaren Gegensätzen ist! Er führt zu einem belastbaren Grundvers, von dem aus später jeder seinen eigenen Vers sollte formen können.
Die Silben der Deutschen Sprache lassen sich im Hexameterrahmen sinnvoll nach ihrem Gewicht unterscheiden; es gibt also schwere und leichte Silben.
Schwer ist eine Silbe vor allem, wenn sie mit viel Nachdruck gesprochen wird; zu ihrem Gewicht tragen in geringerem Umfang aber auch die Länge ihres Vokals sowie die Anzahl und Art ihrer Konsonanten bei. Da der Nachdruck, mit dem gesprochen wird, im Deutschen stark von der Bedeutung abhängt, finden sich solche Silben vor allem bei den Sinnwörtern, also den Substantiven, Adjektiven, Verben und Adverben. Ganz entsprechend finden sich leichte Silben vor allem bei den Bausilben, also den Hilfsverben, Pronomen, Präpositionen, Artikeln, Vorsilben und dergleichen mehr. Betrachtet man nur einsilbige Wörter, wären also Schrank, groß, läuft, dort schwere Silben, ist, sie, vor, das dagegen leichte Silben!
Bei zwei- und mehrsilbigen Wörtern sind für gewöhnlich die Stammsilben schwere, die Ableitungs- und Bestimmungssilben dagegen leichte Silben: Eis, ei-sig, ver-ei-sen – die schweren Silben sind fett dargestellt.
Außerhalb des Versrahmens. also des einzelnen, bestimmten Verses, lassen sich genaue Zuordnungen allerdings nur schwer treffen, denn es gibt zum einen viele Silben, die ein mittleres Gewicht haben und daher sowohl für die Hebung wie für die Senkung in Frage kommen; zweitens ist die Hebungs- und Senkungstauglichkeit einer Silbe immer auch von den ihr benachbarten Silben abhängig; und drittens kann die logische Betonung, die aus dem Sinnzusammenhang des den Vers füllenden Satzes herrührt, eine an sich sehr leichte Silbe durch starke Betonung schwer und hebungstauglich machen. Nötig ist daher immer der Blick auf den jeweiligen Vers!