Auf welche Art soll ein mit den Mitteln der deutschen Sprache gebildeter Hexameter die in den antiken Sprachen vorgefundenen Eigenheiten dieser Versart nachbilden? Von der Antwort auf diese Frage hängt alles ab, und die Theoretiker und Praktiker des Verses haben daher viel Zeit aufgewendet, um hier Klarheit zu schaffen. Leider widersprechen sich die gefundenen Lösungen oft völlig! Die Frage zum Beispiel, ob der antike Spondeus ( — —), also ein Versfuß aus zwei gleichlangen Silben, durch den deutschen Trochäus (— ◡), also einen Versfuß aus einer betonten und einer unbetonten Silbe, darstellbar ist, hat je nach Verfasser und Zeit zu (unter anderem!) folgenden Antworten geführt:
– Der deutsche Vers ordnet sich ausschließlich nach der Tonstärke der Silben und muss als zweisilbigen Versfuß den Trochäus verwenden, weil die deutsche Sprache keine Spondeen bilden kann.
– Der deutsche Vers kann den Trochäus ohne Bedenken neben dem Spondeus verwenden und sollte das auch tun, weil er dadurch an Ausdruckskraft gewinnt.
– Der deutsche Vers muss auf den Trochäus zurückgreifen, weil es im Deutschen nicht genug Spondeen gibt; sein Gebrauch unterliegt aber Einschränkungen.
– Der deutsche Vers muss als zweisilbigen Versfuß den Spondeus verwenden, da er wie der antike Vers seine Silben dem Zeitwert nach ordnet, der Trochäus aber dreizeitig ist im Gegensatz zum vierzeitigen Spondeus.
Dementsprechend unterschiedlich klingen die deutschen Hexameter, die aufbauend auf diesen Überlegungen geschrieben wurden.
In ein Gasthaus führte man mich, woselbst ich das beste
Essen und Trinken fand und weiches Lager und Pflege.
Das ist Goethe, der in seiner „ersten Epistel“ ein tiefenentspanntes Verhältnis zum Trochäus zeigt: „In ein“, „Gasthaus“ „mich wo“, „beste“, „Trinken“, „fand und“, „weiches“, „Pflege“ …
Während sie so im Gebet sich emporschwang, öffnete Skyron
Mit Kriegsknechten die Tür, und ruhig erhob sich die Jungfrau,
Ihnen entgegengewandt mit siegreich glänzenden Augen.
Paul Heyse zeigt in seiner „Thekla“ einen sehr bewussten Umgang mit den zweisilbigen Versfüßen: „-porschwang“, „Skyron“, „Jungfrau“ „siegreich“ nähren sich dem Spondeus an, so gut es geht, „Mit Kriegs-“ ist einer der berüchtigten „geschleiften Spondeen“, und bei „Tür, und“, dem einzigen Trochäus in diesen drei Versen, hilft die in den Versfuß fallende Zäsur durch ihr Pausieren, dem Versfuß mehr Umfang zu geben; ihn dem Spondeus anzugleichen.
August Wilhelm Schlegel schrieb in der Einleitung zu „Die Herabkunft der Göttin Ganga“: Es versteht sich von selbst, dass im Hexameter keine Trochäen geduldet werden können. Und lässt dann Verse folgen wie:
Schwingungen, tausenderlei sich begegnende, deckten den Himmel,
Wie in der Schwül‘ ausziehn weißwolkige Scharen der Schwäne.
Der erste Vers hat nur dreisilbige Füße, der zweite zwei aufeinanderfolgende, kunstvoll-griechisch gedachte Spondeen: „Schwül‘ aus-„, „-ziehn weiß“.
Es gäbe allein zu diesen sieben Versen noch viel zu sagen, aber das einzig wirklich wichtige ist die eingangs gestellte Frage: Wie werden aus antiken Hexametern deutsche Hexameter? Diese Frage muss sich jeder, der ernsthaft Hexameter schreiben möchte, zu irgendeinem Zeitpunkt stellen und beantworten; und so auch dieses Lexikon!
Was aber ist seine Antwort? Nun: Ein klares „Sowohl als auch“! Es schließt sich an Heinrich Viehoff an, der in seiner „Vorschule zur Dichtkunst“ schreibt:
Der deutsche Hexameter ist allerdings ein Akzentvers, wie alle deutschen Verse, und als solcher nicht an das strenge Gleichgewichtsgesetz des quantitativ abgewogenen antiken Hexameters gebunden; er ist nicht der nämliche Vers, wie dieser; aber er ist doch ein Analogon desselben. Er verbindet mit seinem akzentuierenden Charakter etwas von dem Wesen quantitativ gemessener Verse; und darauf beruht gerade ein großer Teil seiner Schönheit und Würde.
Lies: Der deutsche Hexameter ordnet sich nach der Tonstärke seiner Silben; er leugnet aber seine antike Herkunft nicht und beachtet, so gut es immer geht, auch die Zeitdauer dieser Silbe – und das macht ihn schön.