Hexameter und Reim
Hexameter reimen sich nicht. Das ist, in einem kurzen Satz, alles, was man wirklich wissen muss; aber wie schon der Umfang dieses Eintrags zeigt, ist der Weg zu dieser Erkenntnis lang!
Zwei Größen sind für jeden metrisch geregelten Vers von entscheidender Bedeutung, seine Bewegung und sein Klang; eine dieser Größen ist dabei die Grundlage des Verses, während die andere, obwohl sie für das Gelingen des Verses genauso wichtig ist, sich dienend unterordnet.
Ist, wie im Reimvers, der Klang die Grundgröße: dann achtet der Verfasser zwar auf eine anziehende und abwechslungsreiche Versbewegung, wählt sie aber so, dass sie auf den Gleichklang am Versende hinführt.
Ist, wie im Hexameter, die Bewegung die Grundgröße: so achtet der Verfasser auch auf einen vollen und abwechslungsreichen Klang, will aber mit ihm die Linien der Versbewegung erfahrbar machen.
Daher ist dem Hexameter der Endreim fremd, denn der Reim lenkt die Aufmerksamkeit des Hörers auf den Gleichklang am Schluss des Verses und zieht sie ab von der Grundgröße, der Versbewegung, die am Beginn des Verses einsetzt und dann auf die den Hexameter bestimmende Art den Versraum durchschwingt!
Dazu kommt, dass der Hexameter ein Vers ist, der ohne Begrenzung der Zahl gereiht werden kann und soll; ein Endreim aber verbindet zwei Verse zu einem Paar, einer kleinen, sich gegen den Rest absetzenden Einheit: Der Text bekommt ein strophisches Wesen.
Beispiele gereimter und gereihter Hexameter finden sich daher selten und meist früh. So wollte zum Bespiel Gottsched den Beginn von Vergils „Aeneis“ aus lateinisch-ungereimten in deutsch-gereimte Hexameter übersetzen:
Waffen besing ich, und den, der von trojanischen Küsten
Welschlands Grenzen bezog, wo Latiens Ufer sich brüsten;
Welcher viel Unfalls erfuhr, als nebst der Götter Verhängnis
Iunos wütender Groll den Helden in manche Bedrängnis,
Teils auf der See, teils wieder zu Lande gezwungen zu schweben,
Eh er noch Alba gebaut, und Welschland Götter gegeben;
Bis der Lateinergeschlecht, der Rat der Albaner entsprungen,
Ja dir auch selber, o Rom, die erhabenen Zinnen gelungen.
Dazu, als Vergleich, die Übersetzung von Voß:
Waffen ertönt mein Gesang, und den Mann, der von Troer-Gefild einst
Kam, durch Schicksal verbannt, gen Italia, und an Latinums
Wogenden Strand. Viel hieß ihn Land‘ umirren und Meerflut
Göttergewalt, weil dau’rte der Groll der erbitterten Juno;
Viel auch ertrug er im Kampf, bis die Stadt er gegründet, und endlich
Latium Götter empfing; woher der Latiner Geschlecht ward,
Und Albanische Väter, und du, hochtürmende Roma.
Es wird hörbar, dass die Reime den Vers glätten und die Aufmerksamkeit auf das Versende richten?!
Wenn überhaupt, verträgt der Hexameter nach dem bisher Gesagten den Endreim, wenn er strophisch gebraucht wird in Verbindung mit Versen von einfacherer Bewegung. Ein Beispiel geben vier Verse aus „Wettgesang“ von Friedrich Rückert, der den Text ein „modernes Idyll“ nennt:
Kunstlos war der Gesang, auch prunklos waren die Singer,
Und selber schmucklos war die Flur;
Doch vom Himmel ein Glanz war irdischer Mängel Bezwinger,
Ich sah verklärte Lichtnatur.
Ein Hexameter und als Kurzvers dabei ein iambischer Vierheber – ein „iambischer Dimeter“ nach antikem Verständnis:
◡ —, ◡ —, ◡ —, ◡ —
Insgesamt ein „1. pythiambisches Distichon“ (das 2. hat einen sechshebigen Iambus – einen „iambischen Trimeter“ – als Zweitvers).
Gleichfalls eine alte Form legt Ludwig Hölty einer Reimstrophe zugrunde – die erste Strophe von „An Braga“:
Komm, du Geber des Sangs, Apollens Besieger o Braga,
Bei mir warten dein Braten und Fisch,
Komm, sonst hol dich der Teufel, Papa der Barden und Aga,
Komm an meinen beschüsselten Tisch!
Ein „alkmanisches Distichon“ aus Hexameter und „alkmanischem Vers“, womit ein katalektischer daktylischer Vierheber gemeint ist:
— ◡ (◡), — ◡ (◡), — ◡ ◡, —
Zwei solcher Distichen werden in einer Strophe durch den Kreuzreim verklammert. Derartige Versuche sind aber sehr selten geblieben!
Trotzdem können Reime im Hexameter gebraucht werden, dann allerdings im Versinnern! Gleich einen dreifachen Reim benutzt Wildgans im „Kirbisch“, um den Augenblick zu beschreiben, in dem ein zuvor heimlich weitergereichtes Gerücht öffentlich wird:
Was das Vöglein gewispert, am hellichten Tage gedieh es
Dort zum staunenden, raunenden, endlich posaunenden Chorus!
Neben dem Reim fällt auch die falsche Zäsur nach dem dritten Fuß auf; der Vers ist kaum noch als Hexameter erfahrbar.
Solche Verse sind möglich, aber rar, und sie benötigen immer eine starke inhaltliche Begründung. Im allgemeinen gilt: Hexameter wirken stärker, wenn kein Reimklang in ihnen wirkt!
Auch im epigrammatisch verwendeten Distichon finden sich immer wieder Hexameter mit „Innenreimen“:
Wahl
Kannst du nicht allen gefallen durch deine Tat und dein Kunstwerk,
Mach es wenigen recht, vielen gefallen ist schlimm.
In diesem Distichon Schillers fällt neben dem Reim „allen gefallen“ auch noch das bezugnehmende „vielen gefallen“ auf, was die Klangwirkung durch eine Alliteration zusätzlich verstärkt.
Goethes Biographie
Anfangs ist es ein Punkt, der leise zum Kreise sich öffnet,
Aber, wachsend, umfasst dieser am Ende die Welt.
Hier, in einem Distichon Hebbels, verbindet sich der Reim „leise zum Kreise“ mit einer bewegungsarmen zweiten Vershälfte, die aus drei Amphibrachen besteht!
Inwieweit diese Reime eine Wirkungsabsicht haben, also vom Verfasser bewusst verwendet worden sind, oder schlicht als nicht störend eingeschätzt wurden, muss man am einzelnen Vers beurteilen; und genau so im eigenen Schreiben von Fall zu Fall entscheiden.
Wird der Reim noch unauffälliger, ist er nur noch eine bedeutungsfreie Klangwirkung unter vielen wie in diesem Vers aus Eberhards „Der erste Mensch und die Erde“:
Neues, Erhabenes viel sah da sein staunendes Auge!
In „sah da“ verbindet der Klang eine (schwere) Senkungssilbe und eine benachbarte Hebungssilbe.
Zufällige Gleichklänge, wie sie sich immer wieder in den Vers schleichen durch zum Beispiel die Nachbarschaft von Bausilben, („die sie“) werden unter „Der Klang“ besprochen!