Die Bewegungsschule (28)

Die in (27) vorgestellten Verse entsprachen zwar den metrischen Vorgaben des Verses, der hier in der Bewegungsschule vorgestellt worden ist; durch ihren Verzicht auf die möglichen Abwandlungen wirkten sie aber recht eintönig.

Friedrich Schillers berühmter „Taucher“ benutzt einen anderen Aufbau, allerdings kann sich der verwendete Vers manchmal so ausformen, dass er „unserem“ Vers entspricht, in allen Abwandlungen; von daher möchte ich zu Übungszwecken einige der schillerschen Strophen hier vorstellen! Jede von ihnen enthält einen Vers der Art „ta ta TAM ta ta TAM || ta ta TAM ta ta TAM„, rein oder in Abwandlungen (wem die nicht mehr gegenwärtig sind – bitte noch einmal nachschauen in den älteren Einträgen). Die Aufgabe an jeden, der mag, wäre: diesen Vers herauszufinden! Am Schluss werden die entsprechenden Verse dann aufgelistet. Also los!

 

1 Und sieh! aus dem finster flutenden Schoß,
Da hebet sich’s schwanenweiß,
Und ein Arm und ein glänzender Nacken wird bloß,
Und es rudert mit Kraft und mit emsigem Fleiß,
Und er ist’s, und hoch in seiner Linken
Schwingt er den Becher mit freudigem Winken.

2 Und er kommt, es umringt ihn die jubelnde Schar,
Zu des Königs Füßen er sinkt,
Den Becher reicht er ihm kniend dar,
Und der König der lieblichen Tochter winkt,
Die füllt ihn mit funkelndem Wein bis zum Rande,
Und der Jüngling sich also zum König wandte:

3 Es riss mich hinunter blitzesschnell –
Da stürzt mir aus felsigtem Schacht
Wildflutend entgegen ein reißender Quell:
Mich packte des Doppelstroms wütende Macht,
Und wie einen Kreisel mit schwindelndem Drehen
Trieb mich’s um, ich konnte nicht widerstehen.

4 Das hörte die Tochter mit weichem Gefühl,
Und mit schmeichelndem Munde sie fleht:
„Lasst, Vater, genug sein das grausame Spiel!
Er hat Euch bestanden, was keiner besteht,
Und könnt Ihr des Herzens Gelüsten nicht zähmen,
So mögen die Ritter den Knappen beschämen.“

5 Da ergreift’s ihm die Seele mit Himmelsgewalt,
Und es blitzt aus den Augen ihm kühn,
Und er siehet erröten die schöne Gestalt
Und sieht sie erbleichen und sinken hin –
Da treibt’s ihn, den köstlichen Preis zu erwerben,
Und stürzt hinunter auf Leben und Sterben.

 

Es gibt durchaus noch einige mehr; aber das soll genügen. Klar ist, es kann keiner der letzten beiden Verse jeder Strophe sein – die enden immer auf einer unbetonte Silbe. Bleiben noch vier Möglichkeiten; aber da der zweite Vers stets dreihebig ist, sind es sogar nur drei Möglichkeiten. In den jeweiligen Strophen sind es diese Verse:

1 Und es rudert mit Kraft und mit emsigem Fleiß,

ta ta TAM ta / ta TAM || ta ta TAM ta ta TAM

„Und ein Arm und ein glänzender Nacken wird bloß,“ wäre von der Silbenanordnung auch passend, aber es fehlt eine Zäsur?! Nicht, dass man in einem „richtigen“ Text, der diesen Vers nutzt, nicht auch einen zäsurlosen Vers unter die gewöhnlichen, zäsurierten mischen könnte; einmal ist keinmal.

2 Und er kommt, es umringt ihn die jubelnde Schar,

ta ta TAM / ta ta TAM || ta ta TAM ta ta TAM

– Da kann die Zäsur sicher auch eine Silbe später gelesen werden?!

3 Wildflutend entgegen ein reißender Quell:

TAM TAM ta / ta TAM ta || ta TAM ta ta TAM

Versetzte Betonung am Anfang, die Zäsur ist um eine Silbe veschoben.

4 „Lasst, Vater, genug sein  das grausame Spiel!“

TAM TAM ta / ta TAM ta || ta TAM ta ta TAM

Einer der Verse, die es bis zum bekannten Zitat geschafft haben … Vom Versbau her aber sehr ähnlich dem vorigen?! Bei „Und mit schmeichelndem Munde sie fleht:“ passt wieder die Silbenanordnung; und wieder fehlt eine Zäsur.

5 Da ergreift’s ihm die Seele mit Himmelsgewalt,

ta ta TAM / ta ta TAM ta || ta TAM ta ta TAM

In dieser Strophe gibt es sogar noch eine zweite Möglichkeit: „Und er siehet erröten die schöne Gestalt“ mit fast derselben Versbewegung!

Insgesamt fünf in Kleinigkeiten unterschiedliche Verse. Eine Gemeinsamkeit haben sie allerdings auch: Schiller verzichtet in der zweiten Vershälfte auf einen Sinneinschnitt, viermal verwendet er dort ein dreisilbiges Adjektiv!

Erzählverse: Der Hexameter (52)

Vom Wirklichen

Hexameter tun sich schwer damit, abstrakte Inhalte zu vermitteln – die langen Verse sind einfach zu sehr auf Gegenständlichkeit angewiesen, um nicht langweilig zu klingen; wie im Leerlauf. Dementsprechend setzen die meisten Hexameter-Texte auch mit Handlung ein, oder zumindestens mit einer Beschreibung. Goethes „Achilleis“ etwa:

 

Hoch zu Flammen entbrannte die mächtige Lohe noch einmal,
Strebend gegen den Himmel, und Ilios’ Mauern erschienen
Rot durch die finstere Nacht; der aufgeschichteten Waldung
Ungeheures Gerüst, zusammenstürzend, erregte
Mächtige Glut zuletzt. Da senkten sich Hektors Gebeine
Nieder, und Asche lag der edelste Troer am Boden.

 

Da kann man sich von Beginn an über fehlendes Ansprechen der Sinne eigentlich nicht beklagen! Als Gegenstück wähle ich den Anfang von Moritz Hartmanns „Adam und Eva“:

 

Glücklich in solcher Zeit, und dreimal glücklich ist jeder,
Dem ein Winkel gehört, dahin er vermag sich zu flüchten:
Sei’s ein Winkel, versteckt und vergessen im lieblichen Talgrund,
Fern dem Geräusche der Welt und nahe dem Rauschen der Quelle,
Nahe dem Brausen des Hains und nahe dem Liede der Lerche,
Wo er bald mit der Quelle, dem Hain und der Lerche sich Eins fühlt –
Sei’s ein Winkel in eigener Brust, ein Tuskulum, das stets
Mit ihm ziehet und flieht – ja glücklicher ist er zu preisen,
Denn die Natur, sie hat trotz Lerchen und Hainen und Quellen
Trotz Katarakten und Seen und Blumen und Leuchten der Gletscher
Nichts so schönes gemacht, als sich findet in jeglichem Herzen,
Wenn nur selbst es versteht den eingeborenen Reichtum.

 

Nicht, dass das jetzt schlechte Verse wären – aber man verspürt angesichts der zahlreichen Worthülsen der Art „im lieblichen Talgrund“ doch zunehmend den Drang, dem Verfasser ein „Nun fang endlich an, Mann!“ zuzurufen?! Hartmann allerdings fährt noch ein ganzes Weilchen so fort … Mich wundert nicht, dass sein Werk heutzutage unbekannt ist.

Dann doch lieber ein Abstecher zum Goethe-Anreger und Stammvater der epischen Dichter, Homer! In einem Vers aus dem zweiten Gesang  der Ilias führt Elphenor seine Männer in die Schlacht, aber dabei heißt es dann nicht einfach „Sein Volk folgte ihm rasch“, wobei „rasch“ ein sehr bildarmes Adjektiv wäre, sondern, wie Voss übersetzt:

 

Rasch ihm folgte sein Volk, mit rückwärtsfliegendem Haupthaar

 

„Mit rückwärtsfliegendem Haupthaar“! Eine sehr eindrückliche Verdeutlichung der Handlung! Und der Rest des Auftritts ist kaum weniger voll mit Anschaulichkeit:

 

Rasch ihm folgte sein Volk, mit rückwärtsfliegendem Haupthaar,
Schwinger des Speers und begierig, mit ausgestreckter Esche
Krachend des Panzers Erz an feindlicher Brust zu durchschmettern.

 

Drei Verse genügen, um einen Leser wirklichkeitssatt zu machen für, sagen wir, eine Woche.