Erzählformen: Das Reimpaar (28)

Metrisch geregelte Gedichte beziehen ihre Kraft aus dem Nebeneinander von Satz (Sprache) und Vers (Metrum); aus den unterschiedlichen Ansprüchen, die der Schreibende animmt und miteinander aussöhnt, und in deren Vereinigung das Gedicht lebt und atmet.

Keine der beiden Größen darf sich dabei aufgeben. Gedichte, in denen zum Beispiel der Satz nichts von seinen Rechten aufgibt und der Vers nur insofern eine Rolle spielt, als dass aus der Menge der möglichen Sätze die ausgesucht werden, die zusätzlich zu der vollständigen sprachlichen Richtigkeit auch die Vorgaben des Metrums umsetzen, klingen meist spannungsarm, langweilig, tot; einmal wegen des fehlenden Spannungsverhältnisses, zum anderen aber auch wegen der sprachlichen Verarmung – ein Großteil der möglichen Sätze wird ja durch das Metrum „verunmöglicht“!

Im fünften Band von Marie Luise Kaschnitz‘ „Gesammelten Werken“ (Insel 1985) findet sich auf den Seiten 125 und 126 der in Reimpaaren gehaltene Text „Vergänglichkeit“:

 

Ist keine Zeit so arge Zeit,
So tief ist keine Traurigkeit,

Dass nicht geheime Lebenskraft
Den Menschen sich zu Willen schafft.

Ob Feuer ihm das Haus verdarb;
Er ruht nicht, bis er’s neu erwarb.

Ob Not ihn aus der Heimat trieb;
Die fremde Erde ward ihm lieb.

Ob seinen Sohn die Kugel traf;
Er weckt sich andre aus dem Schlaf.

Ja, wenn man ihm das Herz zerbricht,
Er fühlt es nicht und weiß es nicht,

Weil unentwegt und unentwegt
Der Puls des Lebens weiterschlägt.

Und doch im Herbst ein kühler Hauch,
Ein fremdes Lied, ein bittrer Rauch

Genügt, dass seine ganze Welt,
Die blühende, zu Staub zerfällt.

 

„Er weckt sich andre aus dem Schlaf“ – ob dieser Ausdruck, dieser Satz ohne das Einwirken von Metrum und Reim so geschrieben worden wäre? Auch der Satzbau gleich des ersten Verspaars zeigt die angesprochene Spannung, und so vieles in diesen neun Verspaaren.