Ohne Titel

Den Nebel teilt
Der Möwe Schwinge,

Wird neu verhüllt,
Ist schon enteilt:

Die Trauer füllt,
Was ich auch singe.

Erzählformen: Das Madrigal (8)

Das Madrigal steht für eine weitgehende Freiheit in der Gestaltung des Reimverses; nur die Alternation, das stetige Auf und Ab von betonten und unbetonten Silben, bleibt fast immer gleich. Was, wenn dieser feste Halt auch noch verloren geht?! Einen Eindruck davon gibt Christoph Martin Wielands „Der neue Amadis“. Das ist eine sehr lange Verserzählung, also eigentlich kein Madrigal, das ja um ein Dutzend Verse hat; aber sie nutzt zehnzeilige Strophen („Stanzen“, sagt Wieland), und eine davon (die 14. aus dem vierten Gesang) kann gut als Beispiel dienen. Sie handelt von Schatulliöse, die aus einer Ohnmacht in der Grotte eines Tritonen erwacht – und der nicht ganz wohl ist bei dem Gedanken, mit einem Meergott in seiner Höhle allein zu sein:

 

Von diesen Gedanken empört, fährt sie mit beiden Händen
In ihre Locken, zerreißt ihr Halstuch, springt an den Wänden
Hinauf und deklamiert mit tragischem Anstand aus mehr
Als zwanzig Opern die tollsten Stellen her.
Dann wirf sie, atemlos, sich auf die Erde nieder,
Reibt ihre Augen, weint, fährt wieder
Wie eine Medea herum, spricht Unsinn, apostrophiert
Die halbe Natur, und schwört, den Triton ewig zu hassen,
Wofern er – kurz, sie spielt die Tugend, wie sich’s gebührt,
Und muss – was ist zu tun? – am Ende doch sich fassen.

 

Eigenartiges Verhalten … Aber auch eigenartige Verse?! Im wesentlichen sind das dieselben drei Verse, die Wieland in seinem in Das Madrigal (5) vorgestellten Text verwandt hat; nur, dass hier neben der Möglichkeit, Senkungsstellen mit einer unbetonten Silbe zu füllen, die Möglichkeit besteht, dort auch zwei unbetonte Silben zu verwenden. Also so:

Vierheber:

x X / x (x) X / x (x) X / x (x) X / (x)

Fünfheber:

x X / x (x) X || x (x) X / x (x) X / x (x) X / (x)

Sechsheber:

x X / x (x) X / x (x) X || x (x) X / x (x) X / x (x) X / (x)

– Und da lässt schon das reine Silbenbild ahnen, wie sinnverwirrend viele Bewegungslinien ein derart gestalteter Text aufweisen kann? Zumal ja auch die Zäsur beweglich wird und bei den Fünf- und Sechshebern um eine Silbe nach rechts rutschen kann! Ein Beispiel dafür ist dieser Vers:

Als zwan / zig O– / pern || die  toll– / sten Stel– / len her.

x X / x X / x || x X / x X / x X

– Ein eigentlich recht ruhiger Vers, der die Möglichkeit der zweisilbigen Senkung nur an einer Stelle verwendet, eben genau bei der Zäsur; wodurch diese zwischen die beiden unbetonten Silben fällt.

An den Vortrag stellt diese Art Versmischung ziemlich hohe Anforderungen! Aber auch hier hilft, sich das Zusammenspiel von Vers und Satz zu verdeutlichen.

Wofern / er – kurz, / sie spielt || die Tu– / gend, wie / sich’s gebührt,

x X / x X / x X || x X / x X / x x X

Auch hier nur eine doppelt besetzte Senkung. Der Vers ist aber trotzdem recht bewegt durch die drei Einschnitte, die der Satz aufweist; und die Zäsur, die mit keinem von diesen deckungsgleich ist! Sollen sowohl Satz als auch Vers zu ihrem Recht kommen und erkennbar werden, sollte man also nach „spielt“ kurz verzögern, eine ganz kleine Pause lesen?! Es ginge auch ohne, aber besser klingt es, denke ich, ist die Pause da!

Insgesamt lässt sich über diese Art der Gestaltung viel denken und sagen, und ich werde deshalb auch wieder darauf zurückkommen. Hier aber, als Abschluss des heutigen Eintrags, noch die anschließende 15. Stanze des vierten Gesangs – wer mag, kann ja versuchen, sie laut zu lesen! Auch wenn es nicht sofort glückt, am Ende wird die Sprache bewegt und doch gebändigt fließen … (Aber: an die Zäsuren denken!)

 

Wie sehr ihr auch des Meermanns Ungestalt
Missfällt, so ist sie nun einmal in seiner Gewalt;
Ringsum ist See; sie kann nicht schwimmen
Noch unter Wasser gehn. Wisst ihr sonst einen Rat,
Als allgemach die Saiten herunter zu stimmen?
Dies war’s denn auch, was ihre Tugend tat.
„Das Schicksal“, spricht sie, „mein Herr, hat über uns zu gebieten;
Indessen hoff‘ ich, Sie haben, so lang ich mich selbst nicht empfand,
Sich in den Schranken der Ehrfurcht, die meinem Geschlecht und Stand
Von jedem gebührt, gehalten! Ein Zweifel nur machte mich wüten!“

So aber: Nein.

Stürzte vom Himmel der Mond, ins Vergessen sein strahlender Anblick,
Schwiege ich still für ein Jahr; sänge dann laut seine Pracht.

Erzählformen: Das Sonett (9)

Wieder ein Sonett von Franz Werfel, “ Die befreite Seele“, in seinen gesammelten Werken zu finden im Band “Das lyrische Werk” (Fischer 1967) auf den Seiten 422 und 423. Es ist das auf „Der Tod des Priesters„, vorgestellt im fünften Sonett-Eintrag, folgende Gedicht; vielleicht lohnt sich daher der Blick auf des Vor-Gedicht …

Mit Werfels Gedichten habe ich so meine Mühe; irgendetwas in ihnen bürstet mich immer gegen den Strich. Aber gerade darum lohnt wahrscheinlich die Beschäftigung mit ihnen? Ob „Die befreite Seele“ ein Erzählsonett ist, möge jeder selbst entscheiden:

 

Noch einmal! Auf! Ein wilder Fluchtversuch!
Doch haften bleibt sie an der Sterbestelle.
Weh! Unter ihr das Wachs, das Corporelle
Bedrängt sie mit verdicktem Ichgeruch.

Des Körpers Nachgefühl drückt wie ein Fluch
In ihr Befreitsein sich mit grober Delle.
Bis dies auch stirbt und langsam Zell‘ um Zelle
In ihr sich ausfeint, Hauch wird, Schleiertuch.

Nun ist es leer um sie. Wohin? Empor!
Doch wo ist: oben, was bedeutet: Richtung,
In diesen Zwischenräumen unbeirrt?

Da erst gibt sie sich hin. Wie Rauch und Flor
Saugt sie ein Zug in Schichten der Entdichtung,
Wo alles lockrer, leichter, heiter wird.

 

Mag es ein, auch dieses Gedicht „entdichtet“ sich gegen Ende hin?! Jedenfalls ein eigenartiger Text, bei dem spannend zu verfolgen ist, wie er die Ansprüche, die die „innere Form“ des Sonetts anmeldet, zu erfüllen versucht.

Bücher zum Vers (50)

Johannes R. Becher: Das poetische Prinzip.

1957 im Aufbau-Verlag erschienen, versammelt dieser Band Bechers auf knapp 450 Seiten Gedanken zu den Fragen der Dichtung. Da kann man ohnehin schon einmal hineinschauen (wenn man auch nicht alles gutheißen wird, wie ich vermute); alle, die sich mit dem Sonett beschäftigen, werden darüber hinaus den Anhang aufmerksam lesen, denn da findet sich Bechers „Philosophie des Sonetts“, in der Becher eine scharfe und recht einseitige Bestimmung des Sonetts vorschlägt, die nämlich über dessen „innere Form“; aber gerade an solchen Bestimmungen lassen sich die eigenen Vorstellungen am besten überprüfen.