Das Beiwort im Hexameter (I)
Verse formen Sprache, und wer es ernst meint mit dem Schreiben metrisch geregelter Texte, ist sich dessen bewusst; er arbeitet daran, sich die sprachlichen Möglichkeiten, die dem Vers im Vergleich zur Prosa eigen sind, verfügbar zu machen und sie, nötigenfalls, gegen den Vorherrschaftsanspruch der Prosa durchzusetzen.
Beispiel Hexameter: Ein Vers, der viel mehr ist als eine Abfolge von Hebungen und Senkungen. Wer sich bei seiner Gestaltung auf die in der Prosa üblichen Mittel beschränkt, verlangweilt ihn! Das lässt sich gut an den Beiwörtern zeigen, die im Hexameter ganz anders eingesetzt werden können – und sollten! – als in der Prosa. Das schließt ihre Neubildung ein!
Es gibt zum Beispiel das Bildungsmuster „Sinn“, „sinnig“, „feinsinnig“; „Maul“, „mäulig“, „großmäulig“; „Fuß“, „füßig“, „beidfüßig“. Das ist, wie gleicht gezeigt wird, eine Wortstruktur, die dem Bau des Hexameters gelegen kommt; warum also nicht neue Wörter nach diesem Bildungsmuster schaffen?!
Mählig erhöht, weichgrasig, gemach dem müdesten Wandrer.
Das ist ein Vers aus Jens Baggesens Parthenais (II,213); er beschreibt einen Hügel. „Mählig“, „mählich“ ist das noch unverstärkte „allmählich“, also „nach und nach“; „gemach“ meint hier „bequem“. Aber das eigentlich interessante Wort ist, natürlich! das „weichgrasig“, gebildet nach dem angeführten Muster: „Gras“, „grasig“, „weichgrasig“! Einige Verse weiter (II,228) findet man es wieder:
Rechts, wo mählig hinauf weichgrasige Matten emporblühn,
Aber dabei bleibt es nicht. II,292/293:
Endlich bestiegen sie alle nunmehr den helvetischen Wagen,
Wägli genannt, kleinrädrig, mit zween Sitzbrettern gerüstet;
Wenn „Geist“, „geistig“, kleingeistig“, warum dann nicht „Rad“, „rädrig“, „kleinrädrig“?! „Mit kleinen Rädern“ alterniert, „der kleine Räder hatte“ auch; das gewählte, geschaffene Wort dagegen fügt sich dem rhythmischen Anforderungen des Hexameters aufs Schönste:
Wägli genannt, kleinrädrig, mit zween Sitzbrettern gerüstet;
— ◡ ◡, — —, — ◡ ◡ , — — , — ◡ ◡ , — ◡
Das neue Wort hilft also, die zweisilbige Einheit möglichst „spondeusähnlich“ zu füllen!
Und das meine ich, wenn ich sage, jeder (und das meint wirklich: jeder!)Vers hat Anforderungen und Möglichkeiten. Da muss man schon ein wenig Arbeit hineinstecken, manchmal weniger, manchmal, wie beim Hexameter, mehr; und der Prosa gelegentlich auf die Finger hauen. Aber: die Mühe lohnt sich! Versucht es einfach einmal und schaut, nein
Baut euch ein Wort schrägsinniger Art, das den Leser verwundert!
Wer sich nämlich verwundert, wer staunt: der langweilt sich nicht – und ist zumindest einen Augenblick lang frei von der Herrschaft der Prosa.