Erzählverse: Der Blankvers (132)

Sebastian Franz von Daxenberger hat einen alten Herodot-Bericht eigentlich nur versifiziert – sogar die Rahmenerzählung hat er beibehalten in „Das reinste Glück“:

Ein weiser Mann ward einst um Rat befragt:
„Wenn deine Lehre wahrhaft göttlich ist,
Und wenn sie gleicht dem ewigen Gesetze,
So muss sie reines Glück auf Erden geben:
Versprich mir dieses und ich folge dir.“
Der Weise schwieg. Nach einer kleinen Weile
Nachdenkens fing er zu erzählen an:
„Zwei Brüder lebten einst in Griechenland,
Biton und Kleobis, Kydippens Söhne,
Der Junopriesterun zu Argos. Einst,
Als bei der Göttin großem Jahresfest
Das Zweigespann der weißen Stiere fehlte,
Das sie zum Tempel führen sollte, zogen
Die frommen Kinder sie zum Opfer hin.
Gerührt ersah’s die Menge. Doch noch mehr
Ergriffen war in ihrem Innersten
Die Mutter von der heißen Sohnes-Liebe.
Und als die Hekatombe war vollbracht,
Lag sie am Altar lang noch im Gebet
Und flehte zu der heilg’gen Königin:
‚Gib meinen Kindern Glück, gewalt’ge Here,
Du gabst die Tugen ihnen, gib als Lohn
Das reinste Glück! Nicht wie’s die Götter senden,
Was oft nur scheint, was nimmer dauernd ist,
Was Schmerz verzehrt, was Schuld und Reu‘ vernichten,
Was sich vergiftet in der eignen Brust –
Nicht dieses, nein, das wahre reine Glück:
Du kannst es, hohe Schützerin der Griechen!‘
Und eine Stimme glaubt das Mutterherz
Zu hören, die das Himmlische verheißt.
Sie stehet auf und schreitet durch den Tempel:
Leer ist die Halle, dunkel schon der Raum;
Sie hofft am Ausgang Kleobis und Biton,
Die lautgepries’nen Glücklichen, zu finden,
Und findet sie – wie meinst du, Jüngling? Tot!
Sie lagen Brust an Brust, die holden Brüder,
Entseelet an des Tempels Stufen da,
Und Argos Volk stand um sie stillgebeugt,
Betrachtend ihrer Mienen Himmelslächeln.
Vernichtet sank die Mutter auf sie hin;
Du magst des Herzens Jammer leicht ermessen,
Den Schrei der Priesterin zu Here’s Thron.
Doch ihrer Göttin Stimme tönte klar:
‚Ich gab das Glück, um das dein Mund mich flehte,
Das reine Glück, das Reu und Schuld nicht kennt,
Das in der eig’nen Brust sich nicht vergiftet,
Das nicht bloß scheint, das ewig dauernd ist; –
Sie aber starben, weil’s nicht menschlich war.
Die Erd‘ erträgt nicht, was du im Gebet
Verlangtest, Sterbliche! – Ich konnt es geben
Zum sanften Tod nur für ein schöner’s Leben;
Dort ruhen sie in ewig gleichem Glück,
Verlangen dich, doch nicht nach dir zurück!'“ –
Und schweigend, als der Weise wieder schwieg,
Ging Timeon, der Jüngling, schnell von dannen.

Hier wird die Göttin zur Erklärung ihres Handelns gezwungen durch die Notwednigkeit, den „Jüngling“ zu belehren; ob das der (in sicheren, aber nicht besonders guten Blankversen geschriebenen) Geschichte gut tut?!

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