Erzählverse: Der Hexameter (24)

Warum Heine keine Hexameter geschrieben hat

weiß Maximilian Heine in seinen Erinnerungen an den älteren Bruder zu berichten:

Mein Bruder Heinrich war mehrmals gegenwärtig, wenn ich, als Primaner des Gymnasiums, meine prosodischen Arbeiten anfertigte. Ich hatte damals eine große Vorliebe für das klassische Metrum und durch vieles Übersetzen und tägliche Übung eine außerordentliche Leichtigkeit in Anfertigung von deutschen Distichen erlangt. Obgleich Heinrich die Alten besonders hochschätzte und bereits damals durch seine Gedichte einen großen Namen als Poet erworben hatte, so hatte er sich doch im deutschen Hexameter bisher nie versucht. Wir sprachen viel über diesen Gegenstand. Ich zitierte Goethes herrliche Elegien und forderte meinen Bruder auf, auch einmal in diesem Versmaße einen Gegenstand poetisch zu bearbeiten. Ich wiederholte mehrmals Goethes reizenden Vers, wo er auf den Nacken der Geliebten „mit fühlendem Auge und sehender Hand“ des Hexameters Maß skandiert hat.

Endlich ging Heinrich an die Arbeit, und als ich an einem der nächsten Vormittage in sein Zimmer trat, kam er mir mit einem Blatt entgegen, freudig ausrufend: „Siehst Du, auch ich bin unter die Hexameter gegangen.“ Er rezitirte mir einige Zeilen eines Gedichtes: „Trost für Dito“, wobei ich aber schon beim dritten Hexameter (keine kleine Satisfaktion für einen Primaner) dem bereits berühmten Dichter in die Rede fiel: „Um Gottes Willen, lieber Bruder, dieser Hexameter hat ja nur fünf Füße.“ Und nun skandierte ich ihm mit wichtigster Schulweisheit den Vers vor. Als er sich vom Fehler überzeugt hatte, zerriss er leider das Papier mit den Worten: „Schuster, bleib bei Deinem Leisten!“

Ein paar Tage nach dieser Begebenheit, wovon übrigens nicht mehr gesprochen worden war, stand eines Morgens früh, als ich eben aufwachte, Heinrich vor meinem Bette. „Ach, lieber Max,“ begann er mit kläglicher Miene, „was für eine schauerliche Nacht hab’ ich gehabt.“ Ich erschrak. „Denke Dir, gleich nach Mitternacht, eben als ich eingeschlafen war, drückte es mich wie ein Alp; der unglückliche Hexameter mit fünf Füßen kam an mein Bett gehinkt und forderte von mir unter den fürchterlichsten Jammertönen und selbst schrecklichsten Drohungen seinen sechsten Fuß. Ja, Shylock konnte nicht hartnäckiger auf sein Pfund Fleisch bestehen, als dieser impertinente Hexameter auf seinen fehlenden Fuß. Er berief sich auf sein urklassisches Recht und verließ mich mit schrecklichen Gebärden nur mit der Bedingung: dass ich nie wieder im Leben mich an einem Hexameter vergreifen wolle.“

Heinrich hat Wort gehalten, denn außer einigen zahmen Xenien, in Gemeinschaft mit Carl Immermann verfasst, hat er nie wieder in diesem Versmaße gedichtet.

Na ja, möglicherweise gab es auch noch andere Gründe …

Die erwähnte Stelle bei Goethe stammt aus seiner berühmten „fünften römischen Elegie“. Das sind nun keine reinen Hexameter, sondern Distichen, aber ich denke, zwei davon darf ich trotzdem zitieren?!

 

Oftmals hab ich auch schon in ihren Armen gedichtet,
Und des Hexameters Maß, leise mit fingernder Hand,
Ihr auf den Rücken gezählt. Sie atmet in lieblichem Schlummer,
Und es durchglühet ihr Hauch mir bis ins Tiefste die Brust.

 

Bleibt nur noch die Frage offen, ob Maximilian Heines „Nacken“ wirklich dem goetheschen „Rücken“ entspricht?!

Aber natürlich hat auch Heine Hexameter geschrieben, sogar über Goethe, nur eben nicht bewußt, sprich: es sind Prosa-Hexameter. Ein Beispiel ist dieser Satz über den „West-Östlichen Divan“, geschrieben im Jahr nach Goethes Tod:

Lebensgenuss hat hier Goethe in Verse gebracht, und diese sind so leicht, so glücklich, so hingehaucht, so ätherisch, daß man sich wundert, wie dergleichen in deutscher Sprache möglich war.

Das sind dreieindrittel Hexameter!

Lebensge- / nuss hat hier / Goethe || in / Verse ge- / bracht, und / diese
Sind so / leicht, so / glücklich, || so / hinge- / haucht, so ä- / therisch,
Dass man sich / wundert, wie || der- / gleichen in / deutscher / Sprache
Möglich / war.

 

Lebensgenuss hat hier Goethe in Verse gebracht, und diese
Sind so leicht, so glücklich, so hingehaucht, so ätherisch,
Dass man sich wundert, wie dergleichen in deutscher Sprache
Möglich war.

 

Nun nimmt dieser Text allerdings zweimal in kurzer Folge die „metrische Lizenz“, die Ausnahmeerlaubnis in Anspruch, am Versschluss „X x x / X x“ zu ersetzen durch „X x / X x“, und das würde einem wirklichen Hexametristen kaum einfallen; aber dafür ist der zweite Vers gänzlich makellos. Und die Aussage an sich ist ja auch beachtenswert!

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