Lord Lindsays „The cranes of Ibycus“
Wen der Titel des heute vorgestellten Werks an Schiller erinnert, der liegt ziemlich richtig – es handelt sich um eine Übertragung der Schillerschen Ballade ins Englische! Und obwohl Alexander Lindsay, der 25. Earl of Crawford, in seinem Band mit Übersetzungen aus dem Deutschen normalerweise so eng wie möglich am Ursprung bleibt, in Form, Wort und Sinn – Who rides so late through night-storm wild -, wählt er bei den „Kranichen“ die Umformung der gereimten Strophen in reimlose, fortlaufende Hexameter. Die Gründe? Ich kenne sie nicht wirklich. Aber der Übersetzer war ein überzeugter Anhänger des englischen Hexameters, und die in der Antike spielende Handlung hatte wohl auch mit dieser Entscheidung zu tun. So schreibt er in seinen Anmerkungen:
To German readers I need offer no apology for translating this beautiful poem into hexameters,— a measure peculiarly appropriate to classical subjects, and by no means so unsuitable to the genius of the Teutonic dialects as is commonly supposed in England.
Na ja. Es ist ja nicht so, als ob es in Deutschland an Stimmen gefehlt hätte, die den Hexameter als unvereinbar mit der deutschen Sprache ansahen; und ob man einfach so ein ganzes Werk in eine völlig fremde Form gießen kann, ohne dass es ein anderes Werk wird; wer weiß. Form ist schließlich mehr als ein Mantel, den ein Inhalt nach Belieben an- und ausziehen kann!
Nun aber zum Text selbst. In der Gesamtheit – Schillers Ballade hat 23 achtzeilige Strophen – wäre er wohl ein wenig zu lang, aber einige Ausschnitte werden genügen, denke ich. Hier die Strophe, in der Ibykus durch die Hand der Räuber stirbt:
Und schwer getroffen sinkt er nieder,
Da rauscht der Kraniche Gefieder,
Er hört, schon kann er nicht mehr sehn,
Die nahen Stimmen furchtbar krähn.
„Von euch ihr Kraniche dort oben!
Wenn keine andre Stimme spricht,
Sei meines Mordes Klag erhoben!“
Er ruft es, und sein Auge bricht.
Das klingt in englischen Hexametern dann so (das Hinsinken, and down he heavily sinketh, beschließt den Vers davor):
O’er him just at that moment the cranes pass rushingly onward;
See them can he no more, but he hears their wild jubilation,
Hears their heavy wings —“ Be ye, O ye myriads above me!
„Ye, since none else will answer, my witnesses and my avengers!“
Was für eine Veränderung im Ton! Ich bin mit Schillers Balladen-Versen nie richtig warm geworden, weil sie oft so starr und hölzern wirken; da ist die Auflösung in bewegte Hexameter fast schon eine Wohltat für’s Ohr. Inhaltlich ist der englische Text etwas redseliger als das Vorbild, und manchmal weicht er auch zum Guten oder Bösen ab – „furchtbar krähn“ und „wild jubilation“ wäre da etwa ein Paar, über das man nachdenken kann. Bemerkenswert, andererseits, auch der Verzicht auf den letzten Schillerschen Vers?!
Das soll jetzt aber nicht heißen, dass mir die Übersetzung vorbehaltslos gefiele. Da sind auch viele Stellen, in denen der Hexameter blass bleibt, seine Bewegung sich der Hölzernheit des Ursprungstextes angleicht oder einfach schlecht gebaut ist (jedenfalls nach meinem Urteil, wobei ich des Englischen aber nicht kundig bin). An einzelnen Stellen aber blitzen immer wieder schöne Verse auf, und an anderen ist der Vergleich mit Schillers Reimen lohnend. So etwa, wenn es über den Mörder heißt:
Er geht vielleicht mit frechem Schritte
Jetzt eben durch der Griechen Mitte,
Und während ihn die Rache sucht,
Genießt er seines Frevels Frucht.
Now, even now, perchance, thro‘ the midst of the Greeks he walketh,
Shameless, enjoying the fruits of his crime, while Nemesis seeks him
Fast ist man versucht, das ganze auch einmal mit deutschen Hexametern zu probieren … Aber ich fürchte, in meinem Fall ist es dafür zu spät. Denn Verse wie
Wohl dem, der frei von Schuld und Fehle
Bewahrt die kindlich reine Seele!
haben sich einfach zu tief eingebrannt, als dass sich die Hand nicht sträubte gegen ein Umschreiben.