Erzählverse: Der Hexameter (31)

Die Hexameter-Zeitmaschine

Jeder Dichter strebt danach, seine Ausdrucksmöglichkeiten zu erweitern. Ich für meinen Teil finde da vieles auf den älteren Stufen der deutschen Sprache, und der Hexameter ist eine Art Zeitmaschine, die den heutigen Dichter in die alten Zeiten reisen lassen kann. Denn zum einen liegen die Anfänge dieses Verses schon über 250 Jahre zurück, und zum anderen haben auch die damaligen Dichter gerne auf altes Sprachgut zurückgegriffen, wodurch man also noch weiter in die Vergangenheit gelangt!

Eine der Erscheinungen, bei denen sich diese Reise wirklich lohnt, ist der Genitiv: heute stark im Rückgang begriffen, doch früher ein unglaublich ausdrucksstarker Bestandteil der Sprache.

So hatte der Genitiv früher eine bemerkenswerte Arbeitsteilung mit dem Akkusativ: War das Objekt voll und ganz von der Handlung im Verb betroffen, so stand der Akkusativ, war es nur zum Teil betroffen, stand der Genitiv!

Ich esse das Brot meint da also, dass das ganze Brot gegessen wird; Ich esse des Brotes dagegen, dass nur ein Teil des Brotes von mir gegessen wird. Feine Sache, das, von oft erfrischendem Klang. Er nahm des Blutes in die Hand, steht bei Hölty; was müsste man da heute sagen – Er nahm etwas von dem Blut in die Hand?! Bah …

Der Genitiv steht also als „etwas loseres Objekt“. Das geht auch bei absolut, also ohne wirkliches Objekt gebrauchten Verben – ein sehr loses Abhängigkeitsverhältnis; der Genitiv beschreibt dann meistens den Grund einer Handlung. Womit wir wieder beim Hexameter sind – in der „Luise“ des Johann Heinrich Voss finden sich etwa diese beiden Verse:

 

Sprachs; da droht ihm Luise mit aufgehobenem Finger,
Feuerrot; und sie lachten des hold errötenden Mägdleins.

 

Mal abgesehen davon, dass es nicht nett ist, über (wie wir heute sagen) jemanden zu lachen (auch wenn es an höchster Stelle üblich ist, siehe Luthers der im Himmel wohnet, lachet ihrer): dieser Genitiv hat einen schönen Klang. Und die Präposition spart man sich auch … Einfach mal ausprobieren!

Schon fester ist die Bindung da nach Verben des Mangels oder des Verfehlens. In Gotthard Ludwig Theobul Kosegartens „Jucunde“ finden sich diese Hexameter über die (platonische) Seele:

 

Wieder erkennend das vormal Erschaute im irdischen Abglanz,
Schaudert sie, stockt, besinnt sich, entbrennt für das Schöne, verfolgt es
Tag und Nacht, vergisst der Speis und des Trankes, versäumet
Jegliche Pflicht des Bürgers, verschmähet die Ehr und den Reichtum:

 

Den ersten Vers finde ich schwach, aber hier geht es ja auch um das vergisst der Speis und des Trankes – klingt erstmal ungewohnt, aber auch das gibt es noch als Rest im heutigen Pflanzennamen Vergissmeinnicht – wenn man so will, ein sprachliches Fossil! Einen anderen Rest dieser ehemaligen Fülle bietet der dagegen auch heute noch mögliche Satz Diese Genitive entbehren nicht eines gewissen Reizes.

Zum Schluss schlage ich noch schnell einen Bogen zurück zum Anfang, zum „partitiven Genitiv“. Das Beispiel stammt hier aus August Gottlieb Eberhards „Hanchen und die Küchlein“:

 

Unglück tragen mit Stolz, und des Glückes genießen in Demut,
Das nur versöhnt das Geschick, und adelt vor Gott und vor Menschen.

 

Und einem solchen „Wort zum Sonntag“ ist dann wirklich nichts mehr hinzuzufügen.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert