Paul Heyses „Thekla“ (2)
Amphybrachen, also Bewegungseinheiten der Art „x X x“, muss man im Hexameter im Auge behalten; die bilden sich im Deutschen ganz einfach, und zu viele davon machen einen Hexameter langweilig. Johann Heinrich Voss hatte da große Bedenken, er schrieb:
Der leidige Amphybrach, der oft fünfmal in einem Verse sich überwälzt, und, dass man ihn ja recht aushöre, oft zweimal dazwischen sich verschnauft, zum Beispiel:
Fröhlich belausch ich im Dunkel der Buchen das Zwitschern der Vögel.
Also, von der Bewegung, den Sinneinheiten her, wirklich fünfmal ein „x X x“:
Fröhlich / belausch ich / im Dunkel / der Buchen / das Zwitschern / der Vögel.
Goethe dagegen waren solche Verse kein Ärgernis. Nicht, dass sie bei ihm zahlreich wären; aber im Reineke Fuchs zum Beispiel steht dieser:
Denn es haben mitunter die Pfaffen auch Böses im Sinne.
Denn / es haben / mitunter / die Pfaffen / auch Böses / im Sinne.
Dieselbe Schaukelbewegung wie bei Voss. Wahrscheinlich liegt die Wahrheit wie immer irgendwo in der Mitte … Sicher ist dieses Geschaukel lästig, vor allem deswegen, weil der Hexameter ja von der Vielfalt lebt und mehrere Amphybrachen nacheinander eben eher für Eintönigkeit stehen; aber andererseits gilt wie immer: solange man nichts übertreibt, kann nichts schlimmes passieren.
Mal sehen, wie Heyse mit diesen Amphybrachen zurechtkommt! Im zweiten Gesang der „Thekla“ tritt die Hauptperson erstmals auf: Auf dem Dach eines spärlich geschmückten Hauses – der Hausherr ist vor kurzem gestorben – steht die siebzehnjährige Thekla und ist sauer: Ihr Verlobter Thamyris schläft seinen Rausch aus. Als er aufwacht, kommt gerade der Festzug vorbei; der oberste Kybelepriester erschreckt Thekla mit seinem anzüglichen Verhalten, sie bittet Thamyris, sie wegzuführen, er aber zwingt sie zu bleiben und behandelt sie wie ein Besitzstück. Sie reißt sich los und flieht; In ihrem Zimmer wird sie erst von ihrer Mutter gescholten, dann belauscht sie die Gespräche im jüdisch-christlichen Nebenhaus, wo der Apostel aus dem ersten Gesang die christlichen Bewohner der Stadt zurechtweist, weil sie das heidnische Fest mitfeiern. Thekla ist danach schwer beeindruckt:
Möge der Schlaf dich erquicken, du Edelster! Segne der Gott dich,
Dem du betest, und geb in das Herz dir, länger zu weilen,
Mir nicht ganz zu verstummen.
(Zu beachten: Der Dativ – statt Präposition – „Dem du betest“.) Da ist die zukünftige Christin schon zu erahnen?!
Amphybrachen gibt es zum Beispiel zu sehen, als sich Thekla auf dem Dach von Thamyris befreit:
Doch ihm schäumt unseliger Trotz im Herzen, und herrisch
Hält er sie: Bleib! Ich befehl es! – Da lösen sich unter dem Ringen
Ihr von der Schulter die Spangen, es fällt das Gewand, und der weiße
Busen erglänzt. Auflodernd, die Brust mit den Händen bedeckend,
Stößt sie den Jüngling zurück. Er steht, wie zaubergeblendet,
Plötzlich ernüchtert und schweigt. Da nutzt sie die jähe Verwirrung,
Und vom Söller herab in die Kammer geflüchtet, verschließt sie
Hastig die Tür und bricht mit stürzenden Tränen zusammen.
Ja, ja, „zaubergeblendet“ … Öhöm. Und wie stößt sie ihn eigentlich mit busenbedeckenden Händen zurück? Egal:
Plötzlich ernüchtert und schweigt. / Da nutzt sie / die jähe / Verwirrung,
Drei Amphybrachen in der zweiten Vershälfte – und darüber geht Heyse selten hinaus. Also ein verantwortungsvoller Umgang, solche Halbverse haben dann auch fast alle Verfasser! Nur ein seltsamer Vers ist dabei, aus der Apostelschelte:
Horden von Tieren und Teufeln in blinder Verruchtheit taumelnd.
Da ist schon metrisch eine Besonderheit dabei:
Horden von / Tieren und / Teufeln in / blinder Ver- / ruchtheit / taumelnd.
Der typische Schluss „X x x / X x“ ist verändert zu „X x / X x“! Das ist sehr unüblich. Und dadurch ergibt sich auf der Ebene der hörbaren Sinneinheiten eine seltsame Erscheinung:
Horden / von Tieren / und Teufeln / in blinder / Verruchtheit / taumelnd.
Vier Amphybrachen in der Mitte, flankiert von zwei „X x“. Seltsam einförmig, sehr untypisch, aber vielleicht gerade darum dem Inhalt angemessen?!
Ich mache Schluss mit meinen beiden Lieblingsversen aus diesem Gesang, Thekla nach ihrer Flucht in der Kammer:
Hab ich Ruhe für heut? Wie teuer erkauft! Und ein Morgen
Kommt, und endlich ein Tag, da verlässt mich die Ruhe für immer.