Goethes „venetianische Epigramme“ sollte man mehr als einmal lesen, will man verstehen, wie das Distichon tickt. Dieses hier zum Beispiel:
Oft erklärtet ihr euch als Freunde des Dichters, ihr Götter!
Gebt ihm auch, was er bedarf! Mäßiges braucht er, doch viel:
Erstlich freundliche Wohnung, dann leidlich zu essen, zu trinken
Gut; der Deutsche versteht sich auf den Nektar, wie ihr.
Dann geziemende Kleidung, und Freunde, vertraulich zu schwatzen;
Dann ein Liebchen des Nachts, das ihn von Herzen begehrt.
Diese fünf natürlichen Dinge verlang‘ ich vor allem.
Gebet mir ferner dazu Sprachen, die alten und neu’n,
Dass ich der Völker Gewerb‘ und ihre Geschichten vernehme;
Gebt mir ein reines Gefühl, was sie in Künsten getan.
Anseh’n gebt mir im Volke, verschafft bei Mächtigen Einfluss,
Oder was sonst noch bequem unter den Menschen erscheint;
Gut! schon dank‘ ich euch, Götter; ihr habt den glücklichsten Menschen
Ehstens fertig: denn ihr gönntet das meiste mir schon.
Da gefallen mir die ersten drei Distichen besser als die letzten vier; aber insgesamt ein sehr schöner Text mit einer unaufdringlich, aber wirksam gestalteten Sprache. Das bieten auch die anderen Distichen, so dass man bei der Beschäftigung mit ihnen recht wahrscheinlich als unwahr erweisen kann, was Goethe in einem ihrer Hexameter vom „Deutschen“ behauptet:
Eine Kunst nur treibt er, und will sie nicht lernen, die Dichtkunst.