Der Blankvers ist, so heißt es immer, einer der Verse, die der Prosa nahe sind. Grund genug, beide Möglichkeiten der Gestaltung einmal nebeneinander zu halten?! Ich wähle mir dafür Goethes „Elpenor“, ein Dramen-Bruchstück, das einmal als „Ur-Elpenor“ in Prosa vorliegt und dann in einer Versbearbeitung Riemers, die von Goethe durchgesehen und verbessert worden ist. Der Anfang lautet hier und da:
EVADNE Verdoppelt eure Schritte! Kommt herab! Verweilet nicht zu lange, gute Mädchen! Kommt herein! Gebt nicht zu viele Sorgfalt euren Kleidern und Haaren! Es ist noch immer Zeit, wenn das Geschäfte vollbracht ist, sich zu schmücken. Der frühe Morgen heißt uns rege zur Arbeit sein!
EVADNE
Verdoppelt eure Schritte, kommt herab!
Verweilet nicht zu lange, gute Mädchen,
Kommt herein!
Gewand und Haaren gebt nicht zuviel Sorgfalt;
Ist das Geschäft vollbracht, kommt Zeit zum Schmuck.
Zur Arbeit heißt der Morgen rege sein!
Was fällt auf?! Die Verse sind knapper, und verzichtet wurde auf Bauwörter – „euren Kleidern“, „heißt uns„ – und Beiwörter: „Der frühe Morgen“. Dadurch gewinnt die Sprache an Festigkeit, einerseits; andererseits wandelt sich eine aufgeräumte Morgenplauderei – „Der frühe Morgen heißt uns rege zur Arbeit sein!“ – zu einem Allgemeingültigkeit heischenden Sinnspruch: „Zur Arbeit heißt der Morgen rege sein!“ Da gilt es, wie immer, eine Mittellinie zu finden …
Wobei gesagt werden muss, dass Goethes Prosa-Text keine „wirkliche“, sondern schon ziemlich rhythmisierte Prosa ist; und Riemer auch keine Blankvers-Fassung hergestellt hat, sondern eine, in der zwar viele Blankverse stehen, sich aber iambische Verse anderer Länge in beachtlicher Zahl tummeln. Beides zeigt eine Stelle kurz vor Ende des Bruchstücks:
POLYMETIS Wie Schmeichelei dem Knaben schon so lieblich klingt! Und doch, was schmeichelt noch unschuldiger als Hoffnung? Wie hart, wenn wir dereinst zu dem, was wir missbilligen, dich loben müssten! Es preise der sich glücklich, der von den Göttern weit entfernt lebt; er ehr und fürchte sie und danke still, wenn ihre Hand gelind das Volk regiert. Ihr Schmerz berührt ihn kaum, und ihre Freude kann er unmäßig teilen.
POLYMETIS
Wie Schmeichelei dem Knaben schon so lieblich klingt!
Und doch unschuldig ist der Hoffnung Schmeichelei.
Wenn wir dereinst zu dem, was wir missbilligen,
Dich loben müssen, härter fühlen wir’s.
Der preise glücklich sich, der von
Den Göttern dieser Welt entfernt lebt;
Verehr und fürcht er sie und danke still,
Wenn ihre Hand gelind das Volk regiert.
Ihr Schmerz berührt ihn kaum, und ihre Freude
Kann er unmäßig teilen.
– Ein buntes Gemisch, von den Sechshebern der ersten beiden Zeilen, die auch in einem Trimeter-Text stehen könnten, bis zum Dreiheber der Schlusszeile. Blankverse sind selbstredend auch dabei, aber sie formen den Text hier nicht.
Seltsamerweise warten diese Verse mit recht vielen Änderungen gegenüber dem Prosatext auf; dabei ist der fast rein iambisch und könnte eigentlich unverändert übernommen werden:
Wie Schmeichelei dem Knaben schon so lieblich klingt!
Und doch, was schmeichelt noch unschuldiger als Hoffnung?
Wie hart, wenn wir dereinst zu dem,
Was wir missbilligen, dich loben müssten!
Es preise der sich glücklich,
Der von den Göttern weit entfernt lebt;
Er ehr und fürchte sie und danke still,
Wenn ihre Hand gelind das Volk regiert.
Ihr Schmerz berührt ihn kaum, und ihre Freude
Kann er unmäßig teilen.
Liest sich gut in meinen Ohren; besser eigentlich als die „richtige“ Versfassung, aber das mag auch daran liegen, dass nach 200 Jahren das Sprachempfinden sich geändert hat.
Jedenfalls: So schrecklich breit ist der Graben zwischen Blankvers und Prosa wohl wirklich nicht!