Bücher zum Vers (34)

Die bisher vorgestellten dreiunddreißig Bücher waren allesamt Bücher über Dichter, Dichtung und Gedichte; dieses hier ist eine Gedichtsammlung. Noch dazu eine mit weitläufigem Namen:

Gustav Noll: Arsenal. Poesie deutscher Minderdichter vom 16. bis zum 20. Jahrhundert. Ausgewählt, bearbeitet, eingeleitet, mit Dichterbiographien versehen und herausgegeben von Bernd Thum. Berlin: Propyläen 1973.

„Minderdichter“: Das ist, sagt Bernd Thum in seiner Einleitung, die Eindeutschung des lateinischen auctor minor, was zusammen mit dem auctor major die Grundlage einer „komparavistischen, graduierenden Einteilung“ ist, wie sie zum Beispiel das Mittelalter gekannt hat; und die in Deutschland der mit der Klassik aufgekommene Dualismus „Kunst /  Kitsch“ verdrängt hat.

Warum aber neunhundertsechsundneunzig Gedichte solcher Minderdichter sammeln?! Auf Seite Siebzehn schreibt Thum dazu:

Die engen, aber stets unsicheren Grenzen der Wirklichkeit auszuweiten und neu abzustecken, den Vorrat an Zeichen zu vergrößern, welche die Verständigung der Menschen verbessern und auch ihrer Sehschärfe nützlich sind, dies ist, meine ich, die wesentliche Aufgabe der Poesie. Minderdichter erfüllen diese noble Pflicht nur ungenügend. Warum dann diese Sammlung? Weil die darin enthaltenen Gedichte den Zeitgenossen wichtiges mitzuteilen hatten; weil diese Gedichte Übersetzungen sind von einst vertrauten Begriffen und Normen; weil sie Schattenbilder waren der sie umgebenden und auf anscheinend sicheren Fundamenten ruhenden Wirklichkeit; weil sie das kollektive Denken, Fühlen, Sehen, Reden, Handeln ihrer Zeit und ihrer Gesellschaft wiedergeben; kurz, weil sie mindestens im gleichen Maße wie die Großen, wenn auch anders, an der Geschichte teilhaben. Durch diese Teilhabe setzen sie den heutigen Leser dem Anprall der Vergangenheit aus. Wie der Zusammenstoß mit dem Neuerschaffenen bewirkt dies: Wirklichkeitserweiterung, Schärfung der Wahrnehmung und Sensibilität.

„Der Anprall der Vergangenheit“ also. Wer ab und an im Verserzähler vorbeischaut, wundert sich nicht, dass ich damit viel anfangen kann … Aber auch noch in anderer Hinsicht ist diese Sammlung den Verserzählern von Nutzen – sie versammelt eine gewaltige Masse an Gedichtformen, die fast alle genutzt werden können, um Geschichten in Verse zu kleiden:  Anregungen und Beispiele, so weit das Auge reicht!

Wer den Band in die Hand bekommt, sollte die Gelegenheit also nutzen, Bekannschaft mit diesem oder jenem „Minderdichter“ zu machen.

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