Erzählformen: Das Distichon (9)

Friedrich Hölderlins „Brot und Wein“ ist ein sehr berühmter Text. Er besteht aus neun Abschnitten, die wiederum aus jeweils neun Distichen bestehen; ich stelle hier aber nicht den ersten dieser Abschnitte vor (der ist so oberberühmt, dass ihn ohnehin fast jeder kennt), sondern den vierten!

 

Seliges Griechenland! du Haus der Himmlischen alle,
Also ist wahr, was einst wir in der Jugend gehört?
Festlicher Saal! der Boden ist Meer! und Tische die Berge
Wahrlich zu einzigem Brauche vor Alters gebaut!
Aber die Thronen, wo? die Tempel, und wo die Gefäße,
Wo mit Nektar gefüllt, Göttern zu Lust der Gesang?
Wo, wo leuchten sie denn, die fernhintreffenden Sprüche?
Delphi schlummert und wo tönet das große Geschick?
Wo ist das schnelle? wo brichts, allgegenwärtigen Glücks voll
Donnernd aus heiterer Luft über die Augen herein?
Vater Äther! so riefs und flog von Zunge zu Zunge
Tausendfach, es ertrug keiner das Leben allein;
Ausgeteilet erfreut solch Gut und getauschet, mit Fremden,
Wirds ein Jubel, es wächst schlafend des Wortes Gewalt
Vater! heiter! und hallt, so weit es gehet, das uralt
Zeichen, von Eltern geerbt, treffend und schaffend hinab.
Denn so kehren die Himmlischen ein, tiefschütternd gelangt so
Aus den Schatten herab unter die Menschen ihr Tag.

 

Eigentlich immer gültig, aber hier noch einmal gesagt und angemerkt: Solche Verse müssen laut gelesen werden! Mag sein, man kommt hier und da noch ins Schleudern, aber nach einigen Versuchen sollten die Bewegungslinien gefunden sein, und dann haben diese neun Distichen einen Zug und Schwung, der wirklich wunderbar ist.

Nur an einer Stelle macht eine Besonderheit Hölderlins die Versbewegung ein wenig unkenntlich:

Wahrlich zu einzigem Brauche vor Alters gebaut!

Wahrlich zu / einzi- / gem || Brauche vor / Alters ge- / baut!

Um dem „-gem“ die Hebungsstelle zuzuweisen, es als schwere Silbe zu betrachten: muss man den Vers schon sehr griechisch-antik denken … So etwas machte kein anderer Dichter, und auch Hölderlin nicht allzu häufig; aber während zum Beispiel Schiller in der Pentameter-Mitte fast immer einen klaren Einschnitt hat zwischen zwei deutlich betonten Silben, ist für Hölderlin die Pentameter-Mitte mehr ein Ort, wo zwei „schwere“ Silben aufeinanderstoßen, oft mit einem Sinneinschnitt verbunden; und ebenso oft nicht.

Wie man dieses „-gem“ nun im Vortrag verwirklicht – schwierig … Es einfach unbetont zu lesen, wird dem Vers jedenfalls nicht gerecht. Irgendeine Art von „Längung“ muss da sein, irgendein Verzögern; nur darf es auch nicht zu fremd wirken. Wie gesagt: Schwierig.

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