Erzählverse: Der Hexameter (53)

Der Rheinfall im Hexameter

In Paul  Heyses hier vorgestellter „Thekla“ donnerte ein Gewitter; in Anton Wildgans‘ „Kirbisch“ war ein hochgehendes Munitionslager der Grund des Donners. Eine dritte Möglichkeit, es im Gedicht donnern zu lassen, ist ein Wasserfall, oder genauer: der Rheinfall bei Schaffhausen. Ein vergleichender Blick lohnt sich!

 

Friedrich Leopold Stolberg, aus: Hymne an die Erde

O wie stürzt er donnernd herab beim hallenden Laufen!
Unter ihm beben die Felsen; die grünlichen Wogen verhüllen
Sich in glänzenden Schaum; der staunende Waller vernimmt nicht
Seiner eignen Bewundrung Geschrei, und heilige Schauer
Fassen ihn, wie sie die Felsen und zitternden Tannen ergreifen.

 

Sichere Hexameter, schon, aber doch in der Darstellung ein wenig schlicht, meiner Meinung nach. Dem nicht unähnlich der zweite Fall:

 

Johann Caspar Lavater, aus: Der Rheinfall bei Schaffhausen

.                                                                                         … über die Felsen
Braust, im Wellengewitter, ein immer donnernder Donner!
Schauernd staun‘ ich euch an, ihr rufenden Wogengewölke,
Ihr verschlingt mir den Odem; ihr raubt den Lippen die Stimme!
Unter dir zittert die Erde; der Fels bebt; prächtiger Aufruhr!
Wer, wer zäumt ihn, den Strom, wer stellt die Brust ihm entgegen?

 

Ein „donnernder Donner“ also. Hm. Felsen gibt es wie vorher bei Stolberg und im folgenden bei Mörike – es dürfte aber auch schwer sein, darauf zu verzichten. Und zittert bei Stolberg die Tanne, ist es bei Lavater die Erde und bei Mörike das Herz: auch das Zittern also unverzichtbar, scheint’s, ebenso wie die geraubte Stimme / das nicht vernommene Geschrei / der nicht gehörte Wutschrei?!

Beim dritten Fall, Mörikes Text, muss ich ein wenig schummeln – es sind nämlich Distichen, und da ist ja nur jeder zweite Vers ein Hexameter. Ich finde aber, das Gedicht ist so gelungen, dass es hier nicht fehlen darf!

 

Eduard Mörike, Am Rheinfall

Halte dein Herz, o Wanderer, fest in gewaltigen Händen!
Mir entstürzte vor Lust zitternd das meinige fast.
Rastlos donnernde Massen auf donnernde Massen geworfen,
Ohr und Auge, wohin retten sie sich im Tumult?
Wahrlich, den eigenen Wutschrei hörete nicht der Gigant hier,
Läg er, vom Himmel gestürzt, unten am Felsen gekrümmt!
Rosse der Götter, im Schwung, eins über dem Rücken des andern,
Stürmen herunter und streun silberne Mähnen umher;
Herrliche Leiber, unzählbare, folgen sich, nimmer dieselben,
Ewig dieselbigen – wer wartet das Ende wohl aus?
Angst umzieht dir den Busen mit eins und, wie du es denkest,
Über das Haupt stürzt dir krachend das Himmelsgewölb!

 

Leicht mythologisch angehaucht, schafft es Mörike, die „Wogen“ Stolbergs und Lavaters zu vermeiden, und stattdessen „Rossen der Götter“ einen wunderbar schwungvollen Auftritt zu geben! Sogar so schwungvoll, dass bei manchen Versen die vom Versbau her verlangte Zäsurierung arg ins Wanken gerät; aber das stört hier gar nicht … ( Wer mag, kann ja besonders die Hexameter mal daraufhin abklopfen – „Wahrlich …“ ist einer derer, die am meisten zu denken geben.)

 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert