Erzählformen: Das Sonett (6)

Ist das folgende Sonett von Friedrich Rückert wirklich ein „Erzählsonett“?

 

Amaryllis

Amara, bittre, was du tust ist bitter,
Wie du die Füße rührst, die Arme lenkest,
Wie du die Augen hebst, wie du sie senkest,
Die Lippen auftust oder zu, ists bitter.

Ein jeder Gruß ist, den du schenkest, bitter,
Bitter ein jeder Kuss, den du nicht schenkest;
Bitter ist, was du sprichst und was du denkest,
Und was du hast, und was du bist, ist bitter.

Voraus kommt eine Bitterkeit gegangen,
Zwo Bitterkeiten gehn dir zu den Seiten,
Und eine folgt den Spuren deiner Füße.

O du mit Bitterkeiten rings umfangen,
Wer dächte, dass mit all den Bitterkeiten
Du doch mir bist im innern Kern so süße.

 

An sich: Nein. Aber  Rudolf Borchardt hat sich in seiner 1926 erschienenen Anthologie „Ewiger Vorrat deutscher Poesie“ auf Seite 469 zu Rückerts Werk im allgemeinen – diesem bescheinigt er eine „unerschütterliche Existenz“ – und seinen Amaryllis-Sonetten im besonderen geäußert:

Es sind die einzigen durch und durch leidenschaftlichen Liebesgedichte, die der Vorrat deutscher Poesie besitzt, die einzigen ausfluchtlosen, die meinen, was sie sagen, und fast alles sagen, was sie meinen, eine erbitterte Burschenwerbung um ein sprödes Ding, – besessen, mit zusammengebissenen Zähnen, rasend und reizend, taub gegen die ganze Welt.

Und das hat dann doch wieder mit dem Erzählen zu tun; einiges. Aber von dieser Frage abgesehen ist Rückerts Text einfach ein gutes Gedicht, eine nähere Betrachtung allemal wert!

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