Erzählverse: Der Blankvers (38)

Im ersten Teil von Rainer Maria Rilkes „Hetären-Gräber“ erzählt der Blankvers nicht wirklich; stattdessen breitet er aus, stellt eine unglaubliche Menge von Dingen hin vor den Leser und Hörer!

 

In ihren langen Haaren liegen sie
mit braunen, tief in sich gegangenen Gesichtern.
Die Augen zu wie vor zu vieler Ferne.
Skelette, Munde, Blumen. In den Munden
die glatten Zähne wie ein Reise-Schachspiel
aus Elfenbein in Reihen aufgestellt.
Und Blumen, gelbe Perlen, schlanke Knochen,
Hände und Hemden, welkende Gewebe
über dem eingestürzten Herzen. Aber
dort unter jenen Ringen, Talismanen
und augenblauen Steinen (Lieblings-Angedenken)
steht noch die stille Krypta des Geschlechtes,
bis an die Wölbung voll mit Blumenblättern.
Und wieder gelbe Perlen, weitverrollte, –
Schalen gebrannten Tones, deren Bug
ihr eignes Bild geziert hat, grüne Scherben
von Salben-Vasen, die wie Blumen duften,
und Formen kleiner Götter: Hausaltäre,
Hetärenhimmel mit entzückten Göttern.
Gesprengte Gürtel, flache Skarabäen,
kleine Figuren riesigen Geschlechtes,
ein Mund der lacht und Tanzende und Läufer,
goldene Fibeln, kleinen Bogen ähnlich
zur Jagd auf Tier- und Vogelamulette,
und lange Nadeln, zieres Hausgeräte
und eine runde Scherbe roten Grundes,
darauf, wie eines Eingangs schwarze Aufschrift,
die straffen Beine eines Viergespannes.
Und wieder Blumen, Perlen, die verrollt sind,
die hellen Lenden einer kleinen Leier,
und zwischen Schleiern, die gleich Nebeln fallen,
wie ausgekrochen aus des Schuhes Puppe:
des Fußgelenkes leichter Schmetterling.

 

Das eindrucksvolle Ende ist hier noch keines (obwohl es eins sein könnte); der Text geht noch weiter. Aber ich möchte diesen ersten Abschnitt vorführen als Beispiel dafür, was der Blankvers „aufzählend“ leisten kann.

Am Anfang gibt es Seltsames: Den zweiten Vers, den man als Sechsheber lesen muss oder als Fünfheber mit dreisilbiger Senkung, abweichend jedenfalls von der gewöhnlichen Blankvers-Bewegung; danach folgen, bis auf einen weiteren Sechsheber, nur noch recht unscheinbar sich bewegende Fünfheber, bei denen höchstens am Anfang einmal die Betonung versetzt ist: „Hände und Hemden …“

Dann das „Reise-Schachspiel“ – das taucht da zwar nur über einen Vergleich auf, ist also eigentlich gar nicht anwesend; trotzdem steht es erst einmal etwas quer im Text?! Andererseits fällt es bei dieser Überfülle von Dingen dann auch nicht mehr auf …“Und wieder“, steht da mehr als einmal; und gleich im nächsten Vers ist es dann schon wieder ein „Und mehr“.

Das muss man wohl mögen?! Aber Rilke wäre ja nicht Rilke, wenn er einen Leser nicht in dieser Ding-Vielfalt, die zugleich ein Geschehens-Mangel ist, halten könnte.

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