Erzählverse: Der Knittel (11)

Die Jahre

Die Jahre sind allerliebste Leut:
Sie brachten gestern, sie bringen heut,
Und so verbringen wir Jüngern eben
Das allerliebste Schlaraffen-Leben.
Und dann fällts den Jahren auf einmal ein,
Nicht mehr, wie sonst, bequem zu sein;
Wollen nicht mehr schenken, wollen nicht mehr borgen;
Sie nehmen heute, sie nehmen morgen.

 

Dieses kleine Stück steht in Goethes Gedichten unter „Epigrammatisch“; wo sich ja mancherlei Knittel finden. Die Verse lesen sich recht selbstverständlich, bis auf einen, den vorletzten. Da gibt es, denke ich, mehrere Möglichkeiten?!

Wollen nicht mehr schenken, wollen nicht mehr borgen;

Betont man das doppelte „Wollen“, fängt man sich zwei dreisilbige Senkungen ein; die gehen nicht jedem einfach von den Lippen, und ich kann mich erinnern, diesen Vers auch schon mit zwei „Woll’n“ gesehen zu haben – vermutlich aus genau diesem Grund?!

Die zweite Möglichkeit: Man betont die beiden „nicht“.

Wollen nicht mehr schenken, wollen nicht mehr borgen;

Dann gibt es eine zweifach besetzte Senkung am Versanfang und eine dreifach besetzte in der Versmitte, die aber durch die Zäsur in eine einsilbige und eine zweisilbige Einheit getrennt wird?!

Welche der beiden Möglichkeiten (oder, vielleicht, auch eine ganz andere?!) man bevorzugt, hängt vom eigenen Vortrag ab … Da ist der Knittel ja anpassungsfähig dank seiner ganz allgemein höheren Achtsamkeit dem Satz gegenüber!

Den Vers sechshebig zu lesen, ist dagegen eine Ausflucht; und bringt den Betrachter und zukünftigen Vortragenden um das Vergnügen, unter den verschiedenen Bewegungslinien, die der Knittel hier anbietet, eine begründete Wahl zu treffen.

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