Erzählverse: Der Hexameter (67)

Gerhart Hauptmanns „Till Eulenspiegel“ (1)

Hauptmann begann mit dem „Till“ im Frühjahr 1920. Wie der vollständige Titel

Des großen Kampffliegers, Landfahrers, Gauklers und Magiers Till Eulenspiegel Abenteuer, Streiche, Gaukeleien, Gesichte und Träume

angesichts des darin enthaltenen „Kampffliegers“ schon vermuten lässt, entstand das Epos vor dem Hintergrund des Weltkriegs. Hauptmann selbst sagt:

Mein „Till“ ist ein Werk, das nur aus der Nachkriegszeit entstehen konnte. Durch alle Poren drang die Zeit in diese Dichtung ein. Es war eine Art Notwehr gegen die Trübsal und die albhafte Problematik der Gegenwart.

Die Figur „Till“ hatte dabei in Krafft Christian Tesdorpf sogar einen wirklichen Kampfflieger als geschichtliches Urbild!

Insgesamt hat das Epos 15 umfangreiche „Abenteuer“, ist also etwas zu lang, um hier ausführlich vorgestellt werden zu können. Ich beschränke mich daher auf das erste Abenteuer! Hauptmann hat jedem Abenteuer eine kurze Inhaltsangabe vorangestellt; der so gestaltete Anfang, zu finden in Hauptmanns gesammelten Werken, genauer: im vierten Band, erschienen 1964 bei Propylän, auf Seite 601:

 

DAS ERSTE ABENTEUER

zeigt, wie Till Eulenspiegel sich zu Warmbrunn beträgt, und das Spiegelärgernis. Alsdann, wie er vom Kriege und einer Granate träumt, von einem Splitter getroffen zu sterben vermeint, aber statt dessen erwacht. Schließlich und endlich, was sich am nächtlichen Lagerfeuer zwischen Till, dem Blinden und seiner Mutter und überhaupt ereignet.

„Nur herein, nur hereinspaziert! meine Damen und Herren!
ohne Furcht, ohne Zagen! Der Krieg – Gott sei Dank – ist vorüber!
Gold ist freilich nicht mehr im Lande: das haben die Schweizer,
hat vor allem die Wallstreet. Wir aber, wir haben das Nachsehn!“
Der das rief in den wimmelnden Markt, vor der leinenen Bude,
war ein Mann von geschmeidigem Wuchse, er trug die Litewka,
trug die Wickelgamasche, die Erbschaft der feldgrauen Kriegszeit.
Und der Marktschreier schrie wiederum: „Nur herein, meine Damen!
Was sie drinnen bei mir zu sehen bekommen, es lohnt sich,
einem armen, entlassnen Soldaten sein Gröschlein zu gönnen!
Gerne geb ich’s, beim Hunde! zurück, wenn Sie irgend enttäuscht sind.
Doch Sie sind nicht enttäuscht, sondern treten heraus aus der Bude,
aus dem Zelt – es ist Leinwand, die mir an der Marne gedient hat! -,
ganz berauscht von der größten, der höchsten Entdeckung der Neuzeit,
wie der Himmel sie mir zum Entgelt in der Nacht unsres Unglücks
für den schmählich verlorenen Krieg gradezu ins Gesicht warf.
Was denn ist es? so werden Sie fragen, ein Serum für Starrkrampf,
um den sterbenden Körper des Reichs zu entgiften? ein Mittel
gegen Kriegspest und Schießruhr? ein Flugzeug, den Mars zu erreichen?
oder aber auch nur ein Haar in der Suppe des Sträflings,
jenem ranzigen Fraß, der dem Michel heut tägliches Brot ist?

 

Was der Besucher vorfindet, ist (es wundert nicht) ein Spiegel, in dem er sich selbst sieht. Von einem verärgerten Kunden angezeigt, muss Till auf die Wache, wird dort aber schnell wieder entlassen.

Wie liest sich nun Hauptmanns Hexameter? Ich glaube, man hört schon, dass er viel unruhiger ist als der Vers der klassischen Hexametristen. Ein Beispiel ist der zweite Vers:

ohne / Furcht, ohne / Zagen! || Der / Krieg – Gott sei / Dank – ist vor- / über!

Das erste „ohne“ ist vorne betont, das zweite ist gänzlich ohne Betonung; „Krieg“ ist betont, das völlig gleichwertige „Gott“ nicht. Das kann man wunderbar so lesen – das zweite, wiederholende „ohne“ klingt schwächer als das erste, erst Recht hinter dem schweren „Furcht“, die Redewendung „Gott sei Dank“ klingt „hinten betont“ vollkommen in Ordnung; doch setzt es eine sichere Kenntnis der Hexameterbewegung voraus? Die Sprache gibt aus sich heraus die Bewegung nicht vor, sie arbeitet sogar oft dagegen an und der Vortragende muss sie erst in den Hexameter „zwingen“, was für einige Spannung sorgt; aber eben auch sehr lebendig wirkt!

Von klassischem Gleichmaß ist jedenfalls nicht mehr viel zu hören, und dementsprechend ist Hauptmann von Kritikern, die Goethes Hexameter im Ohr hatten, auch sehr gerügt worden. Aber kann das im 20. Jahrhundert wirklich der alleinige Maßstab sein? Eigentlich handhabt Hauptmann den Vers nämlich mit Geschick. Joseph Gregor schreibt sogar, Hauptmann „braucht den Hexameter mit unerhörter Virtuosität“. Ob ich soweit gehen würde, weiß ich nicht; klar ist jedenfalls, dass Hauptmanns Vers nirgendwo nur darum unruhig oder zerrissen wirkt, weil es ihm an handwerklichem Können mangelt! In späteren Abenteuern kann es da auch schon mal geschehen, dass der Vers in Momenten höchster Erregung einfach zerbricht und einige Zeilen lang bloß rhythmische Prosa vernehmbar ist – aber auch das gehört zum Hauptmannschen Epos, und der Vers findet dann mit der Beruhigung des Beschriebenen immer zurück zum hexametrischen Maß.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert