Günter Waldmann: Produktiver Umgang mit Lyrik
„Eine systematische Einführung in die Lyrik, ihre produktive Erfahrung und ihr Schreiben“, heißt es auf der Titelseite, im Untertitel; und das durchaus zutreffend. „Für Schule (Primar- und Sekundarstufe) und Hochschule sowie zum Selbststudium“ ist dann auf der ersten Innenseite zusätzlich zu erfahren, auch das: zutreffend.
Also ein Buch, das, wenn auch für das Selbststudium geeignet, doch immer irgendwie nach Schule klingt; was man mögen muss. Lässt man sich nicht abschrecken, stellt Waldmann auf knapp 300 Seiten eine große Menge an Wissen vor, das beständig durch Übungen und Arbeitsaufträge abgesichtert wird; „produktive Erfahrung“ eben.
Unter „5.1“ geht es zum Beispiel um „Die Wortwiederholung (an Gedichten Kunerts, Enzensbergers, Brecht und anderer)“. Ich wähle ein Gedicht der „anderen“ – auf Seite 129 schreibt Waldmann:
Ein Beispiel für den kunstvollen Gebrauch von Anapher, Epipher und Complexio ist Goethes Vierzeiler:
Alles geben die Götter, die unendlichen,
Ihren Lieblingen ganz:
Alle Freuden, die unendlichen,
Alle Schmerzen, die unendlichen, ganz.
Eine dreigliedrige (wenn auch nicht ganz reine: „Alles – alle“) Anapher verbindet die 1. mit der 3. und der 4. Zeile. Eine Epipher („ganz“) verbindet die 2. mit der 4., eine andere Epipher („die unendlichen“) die 1. mit der 3. Zeile. Beide Epiphern sind kreuzreimartig miteinander verschränkt und zusätzlich noch in der 4. Zeile („die unendlichen, ganz“) direkt miteinander verbunden. Die 1. und 3. Zeile weisen dieselbe Anapher und Epipher auf und bilden also mit ihnen eine Complexio.
Das liest sich einigermaßen trocken und geschäftsmäßig, ungerührt vorstellend, eben: schulmäßig?! Wie gesagt: Alle, denen das nichts ausmacht, sollten dem Band eine Chance geben; Wissen steckt einiges darin.
Erschienen bei Schneider (11. Auflage 2010)!