Erzählformen: Das Madrigal (7)

Komm, sage mir, was du für Sorgen hast

Es zwitschert eine Lerche im Kamin,
Wenn du sie hörst.
Ein jeder Schutzmann in Berlin
Verhaftet dich, wenn du ihn störst.

Im Faltenwurfe einer Decke
Klagt ein Gesicht,
Wenn du es siehst.
Der Posten im Gefängnis schießt,
Wenn du als kleiner Sträfling ihm entfliehst.
Ich tät es nicht.

In eines Holzes Duft
Lebt fernes Land.
Gebirge schreiten durch die blaue Luft.
Ein Windhauch streicht wie Mutter deine Hand.
Und eine Speise schmeckt nach Kindersand.

Die Erde hat ein freundliches Gesicht,
So groß, dass man’s von weitem nur erfasst.
Komm, sage mir, was du für Sorgen hast.
Reich willst du werden? – Warum bist du’s nicht?

 

Ein Gedicht von Joachim Ringelnatz, das die Erfordernisse eines Madrigals ganz gut erfüllt: Freie Anzahl der Hebungen, freie Reimstellung bei durchgängigem, hier: iambischem Metrum. Von dem wird nur leicht abgewichen – es gibt zwei versetzte Hebungen am Versanfang, „Klagt …“ und „Reich …“

Ein wenig lang ist es mit seinen 19 Versen; aber ich denke, man kann hier trotzdem von einem Madrigal sprechen.

Bemerkenswert dabei, wie sich der Schluss dann doch auf eine bestimmte Versart festlegt?! Die letzten sieben Verse sind betont schließende Fünfheber!

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