Erzählverse: Der Hexameter (69)

Emil Staigers „Die Kunst der Interpretation“

„Die Kunst der Interpretation. Studien zur deutschen Literaturgeschichte“ ist nun kein Hexameter-Werk, sondern Sekundärliteratur; aber ich stelle den Band hier trotzdem einmal vor, weil ich ihn für ein sehr lesens- und empfehlenswertes Buch halte trotz seines schon etwas fortgeschrittenen Alters (erschienen 1955 bei Atlantis).

Nach einem allgemeinen Kapitel zu Fragen der Interpretation folgen ein Briefwechsel zwischen Staiger und Martin Heidegger über Eduard Mörikes „Auf eine Lampe“ und dann Kapitel zu Werken von Klopstock, Lessing, Wieland, Schiller, Schelling, Mörike, Kerner, Gotthelf und Meyer; alle beachtenswert. Der Grund für das Auftauchen des Buches hier unter den Hexameter-Einträgen ist aber das Kapitel „Goethes antike Versmaße“, in dem Interessantes sowohl über Goethe als auch über den Hexameter zu erfahren ist.

Goethe hat zehn Jahre lang hexametrische Dichtung geschrieben. Staiger fragt sich nun, warum nicht vorher, warum gerade in diesen zehn Jahren, und warum nicht mehr danach?

Davor nicht, weil die „Stürmer und Dränger“ jedwedes Gesetz zurückwiesen, danach nicht, weil Goethe den iambischen Trimeter für sich entdeckt hatte. Über das „Dazwischen“ schreibt Staiger, beim „Eintritt in Weimar“ einsetzend:

„Die großen Meister drängen ihn nicht mehr zu außerordentlichem Gebaren; sie überzeugen ihn von dem freundlichen, lebensfördernden Sinn der Muster. Und also befreundet sich Goethe nun auch mit der Autorität des ältesten Verses der europäischen Poesie und bewegt sich ungehindert, frei – in seiner Sprache zu reden – ‘mit Behagen‘ in dessen Gesetz.“

Für den Hexameter und seine Regeln gilt, so Staiger weiter:

„Der Zufall des Lebendigen bleibt in zart umrissenen Grenzen gewahrt. Man möchte sich an die Verse erinnern:

 

Dieser schöne Begriff von Macht und Schranken, von Willkür
Und Gesetz, von Freiheit und Maß, von beweglicher Ordnung,
Vorzug und Mangel erfreue dich hoch; die heilige Muse
Bringt harmonisch ihn dir, mit sanftem Zwange belehrend.

 

Goethe fasst so die Lehre von der Metamorphose der Tiere zusammen. Beinah jedes Wort aber könnte als Ehrung des Hexameters gelten, mit Fug; denn nach allem erweist sich: der Hexameter ist ein organischer Vers, ein Organismus, wie er in Goethes naturwissenschaftlichen Schriften steht.“

Die „Metamorphose der Tiere“ muss ich hier unbedingt auch mal vorstellen; sie hat auch über diese vier sehr beeindruckenden Verse hinaus noch vieles zu bieten. Das haben auch Staigers Ausführungen, aber ich belasse es mal bei dem vorgestellten und schließe mit einem von Staiger angeführten Zitat Wilhelm von Humboldts:

„Der ursprünglichste und älteste Vers der Griechen, der Hexameter, ist zugleich der Inbegriff und der Grundton aller Harmonien des Menschen und der Schöpfung.“

„Vielleicht zu feierlich im Ton“ klingt das für Staiger. Bestimmt; aber auch ziemlich eindrucksvoll …

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