Erzählformen: Das Reimpaar (6)

Hinweg mit dir! spricht das Gebot,
Das tatest du, dein ist der Tod.
Aber die Gnade ruft: Komm her,
Und sündige fortan nicht mehr.

 

Ein doppeltes Reimpaar Emanuel Geibels, zu finden unter seinen „Gelegenheitsgedichten, Sprüchen, Scherzen“. Sicher keine große Dichtung, aber vielleicht doch geeignet, über die Besonderheiten des iambischen Vierhebers nachzudenken?!

Es geht um den dritten Vers. Wenn man es genau nimmt, beginnt er mit einer „versetzten Betonung“:

Aber / die Gna– / de ruft: / Komm her,

X x / x X / x X / x X

Das „Aber“ ist kein besonders starkes Wort, die Wirkung hält sich also in Grenzen; und ist doch deutlich vernehmbar. Ein iambischer Fünfheber wie der Blankvers nutzt diese Möglichkeit der Auflockerung vergleichsweise häufig – und warum auch nicht: Nach einer versetzten Betonung am Anfang ist der restliche Vers noch lang genug, um das Ohr wieder in die gewöhnliche Bewegung zurückzuführen.  Das fällt dem zwei Silben kürzeren Vierheber deutlich schwerer, und dementsprechend ist die Wirkung einer solchen versetzten Betonung viel stärker!

Geibel hat sich jedenfalls sehr bewusst für diese Wirkung entschieden:  Er hätte ja auch ganz einfach schreiben können:

Die Gna– / de a– / ber ruft: / Komm her,

x X / x X / x X / x X

– Und das wäre ein guter, unauffälliger, „glatter“ iambischer Vierheber gewesen?!

Noch viel mehr „Auflockerung“ könnte man erzielen, wenn man den gewählten Vers so versteht:

Aber / die Gna– de ruft: / Komm her,

x x / x X / x X / X X

– Alles da, vier betonte, vier unbetonte Silben, nur ungewöhnlich verteilt … Aber das ist für einen Text, in dem die restlichen Verse „brave“ iambische Vierheber sind, sicher zu bewegt; der Unterschied wäre zu groß. In einem kernigen Text aus zum Beispiel Knittelversen hörte sich die Sache aber schon anders an!

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