Erzählformen: Das Reimpaar (8)

In (7) waren in Bechers Versen schon erste Möglichkeiten zu sehen, den strengen Aufbau des Verspaars aus iambischen Vierhebern aufzulockern – unsaubere Reime, doppelt besetzte Senkungen. Von diesen Möglichkeiten gibt es einige, und je nach gewünschter Tonlage des Textes sollten sie auch eingesetzt werden! Ein wenig vorsichtiger als beim Blankvers sollte man schon sein dabei, der kürzere Vers ist empfindlicher gegen Eingriffe; aber es geht doch viel.

Ein Beispiel sind die folgenden 15 Verse aus dem „Wintermärchen“ von Christoph Martin Wieland:

 

Auf einmal steigt ein schwarzer Rauch
Aus des Gefäßes hohlem Bauch,
Verbreitet sich immer weiter umher,
Liegt wie ein Berg auf Land und Meer.
Der Tag erlischt, es donnert und stürmt,
Das Meer sich bis zum Himmel türmt.
Der Fischer, mit kalter Angst erfüllt,
Steht leblos, wie ein steinern Bild.
Plötzlich folgt eine Todesstille.
Der Nebel überwälzt sich, ballt
Zusammen sich, gewinnt Gestalt,
Und aus der grauen Wolkenhülle,
Die links und rechts herunter wallt,
Streckt ungeheure Riesenglieder
Ein fürchterlicher Geist hernieder.

 

Wieland war ein Meister der Versbehandlung, er wusste genau, wie sich Wiederholung und Abwandlung im vollkommenen Gleichgewicht halten lassen. In seinen Versen hier gibt es einiges an Abwandlung, trotzdem bleibt dieser Ausschnitt doch klar erkennbar vom iambischen Vierheber bestimmt, und vom Reimpaar?!

– Es gibt einige doppelt besetzte Senkungen, in einem Vers sogar zwei:

Verbrei– / tet sich im– / mer wei– / ter umher,

x X / x x X / x X / x x X

Aber diese Abweichungen wirken nie zu stark, weil die Verse davor und dahinter sie gleich wieder „einfangen“.

– In einem Vers fehlt die unbetonte erste Silbe, er beginnt betont:

Plötz– / lich  folgt / eine To– / desstil– / le.

X / x X / x x X / x X / x

Die fehlende unbetonte Silbe wird aber gleichsam „nachgeliefert“ in der doppelt besetzten Senkung!

– Wielands Reime sind sehr sauber, einmal fällt er aber aus dem Paarreim heraus:

„-stille“ muss zwei Verse lang warten, ehe es mit „-hülle“ zum Reim vervollständigt wird; und das zwischen beiden eingeschobene Reimpaar „ballt“ /  „-stalt“ wird nach „-hülle“ noch einmal aufgenommen, „wallt“, ehe ein neuer Reim, ein gewöhnliches Reimpaar in die eigentliche Anlage zurückführt.

Das „Wintermärchen“ ist eigentlich kein Text in Reimpaaren, so häufig wie hier kommen sie längst nicht  immer vor; aber in der langen Verserzählung gibt es genug Stellen, an denen man ihrer Behandlung durch Wieland nachforschen kann. Auftaktige Vierheber sind darüber hinaus alle Verse, auch da lässt sich alles vieles abschauen!

Ich hänge noch die Verse an, in denen der aufgetauchte Geist einige Dutzend Verse später wieder verschwindet. Die Reimbehandlung in den ersten fünf Versen gleicht der gerade beschriebenen; einmal gibt es eine versetzte Betonung („Stürzend von“):

 

So sprach mit einer Donnerstimme
Der Geisterkönig und verschwand.
Und lange noch bebt Meer und Land,
Und von den Hügeln hallt die Stimme
(Gleich einem Wasser, das mit Grimme
Stürzend von Fels zu Fels sich brach)
Dem längst verschwundnen Geiste nach.

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